Lebt wohl, Genossen!
allmählich zu befreien suchte. So kam es 1988 und 1989 zu massenhaften Privatisierungen der 40 Jahre zuvor verstaatlichten und nunmehr hoffnungslos vernachlässigten Häuser, indem man den Bewohnern ermöglichte, ihre Wohnungen relativ preisgünstig vom Staat zu kaufen. Da aber viele von ihnen auch die billigsten Tarife nicht aufbringen konnten, wurde ein Großteil der solcherart freigegebenen Wohnflächen von Spekulanten aufgekauft.
Eines der neu gegründeten privaten Unternehmen, eine Medienfirma, organisierte damals den ersten Schönheitswettbewerb des Ostblocks. Zur Miss Hungary wurde aus 2000 Bewerberinnen die 17-jährige Schülerin Csilla Molnár aus Kaposvár erkoren. Als Hauptpreis erhielt die Siegerin eine aus heutiger Sicht mehr als bescheiden wirkende Prämie, eine dreitägige Wienreise. Die erste Mediensensation dieser Art endete jedoch tragisch. Nachdem sie auf dem europäischen Wettbewerb in Valletta trotz der höchsten Punktzahl ihres Sieges beraubt worden war, nahm sich die junge Schönheitskönigin im Herbst 1986 das Leben und löste damit große Bestürzung aus. Drei Jahre lang fanden daraufhin in Ungarn keine ähnlichen Veranstaltungen mehr statt, um dann nach der Wende geradezu industrielle Ausmaße anzunehmen. Als Trostpflaster galt die brasilianische Telenovela «Die Sklavin Isaura», die ab 1986 im Fernsehen lief. Ungarn war das erste sozialistische Land, das die Serie ausstrahlte. Die Legende will, dass die begeisterten Zuschauer für die Befreiung der Sklavin 1988 sogar Geld sammelten.
In der großen Politik gab es zunächst weniger Sensationen. Im Sommer 1987 wurde der Parteifunktionär Károly Grósz zum Regierungschef ernannt. Das von ihm verkündete «Entfaltungsprogramm» sollte die Wirtschaft durch eine Ausweitung des privaten Sektors sowie durch die Umgestaltung des Steuersystems ankurbeln. Grósz erweckte vage Hoffnungen bei den Kreditgebern und erhielt während seiner Bonner Reise im Oktoberdesselben Jahres eine Milliarde D-Mark «zum freien Gebrauch zwecks Modernisierung der Industrie» – ein Tropfen auf den heißen Stein. Angesichts der zu erwartenden Schwierigkeiten griff man auf ein altbewährtes Mittel zurück – auf die sogenannten «Maßnahmen zur Beförderung des allgemeinen Wohlbefindens», die die Bevölkerung ruhigstellen sollten. In diesem Fall handelte es sich um die uneingeschränkte Reisefreiheit ab dem 1. Januar 1988, die einen Boom des Einkaufstourismus in dem drei Autostunden von Budapest entfernten Wien auslöste. Auf der legendären Mariahilfer Straße kauften die Ungarn von ihren häufig jahrzehntelang gehüteten Devisenvorräten Computer, Kleidung und Parfum, um diese zu Hause weiterzuverkaufen. Die Grenzbehörden schikanierten die Reisenden nur selten und taten ihr Bestes, um sie zu neuen Reisen zu ermuntern. Selbst Pornovideos erregten keinen Anstoß, wie ein Interview zeigt, das unter den damaligen Bedingungen noch eine Sensation war.
JOURNALIST Stimmt es, dass von nun an Pornokassetten legal über die Grenze gebracht werden können?
ZOLLBEAMTER Der Chef der Landeszollbehörde hat verordnet, dass (…) auch solche Videokassetten eingeführt werden dürfen.
JOURNALIST Heißt dies, dass man auch Kassetten mitbringen kann, die früher aus Sittlichkeitsgründen verboten waren?
ZOLLBEAMTER Ja, natürlich, entsprechend verzollt. Eine Pornokassette veranschlagen wir auf 3000–4000 Forint [etwa 100–120 DM nach damaligem Umrechnungskurs]
JOURNALIST Wie haben Sie diesen Betrag festgelegt?
ZOLLBEAMTER Nach dem Umsatzwert.
JOURNALIST Hat die Pornokassette einen Umsatzwert? Meines Wissens kann man sie nur auf dem Schwarzmarkt kaufen.
ZOLLBEAMTER Wenn sie nur einen Schwarzmarktpreis hat, dann bestimmen wir den Zollwert eben auf dieser Grundlage.
JOURNALIST Wenn ich jeden Tag über die Grenze gehe und zurück, darf ich dann jeden Tag eine Pornokassette mitnehmen?
ZOLLBEAMTER (…) Von ein und demselben Film nur eine. Aber mehrere verschiedene Filme sind akzeptabel.
Durch diese und ähnliche «menschliche Erleichterungen» sollte eine politische Windstille erreicht werden, die das ruhige Regieren garantierte, zumalvon Anfang an die Gefahr bestand, dass Grósz’ geplante Reformen im Sande verlaufen könnten. Die führende Partei agierte bereits in einem veränderten Umfeld, weil verschiedene Gruppen, mit Gorbatschows Perestroika im Hintergrund, eine weit radikalere Lösung für die Krise forderten – auch dieses Wort war für die offizielle
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