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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: György Dalos
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Atanacković, der an der nahe gelegenen jugoslawischen Grenze mit den Journalisten der Nachrichtenagentur Tanjug sprach und ihnen unter anderem den Aufruf der in der Stadt gegründeten Rumänischen Demokratischen Front überreichte. Darin wurde zum ersten Mal der Rücktritt Ceauşescus gefordert.
    Der Diktator kehrte am Mittwochnachmittag in ein verändertes Land zurück. Am Abend hielt er eine überlange, die Situation verkennende Fernsehrede: Er gab zu, dass in Temesvar «einige Gruppen von Hooligan-Elementen mehrere Demonstrationen und Zwischenfälle entfesselt haben, eine Reihe von Häusern, Geschäften und öffentlichen Gebäuden angegriffen und geplündert haben (…) und am 17. Dezember ihre Tätigkeit gegenüber Staats- und Parteiinstitutionen inklusive der Armee intensiviert haben». Es stellte sich heraus, dass es der Macht misslungen war, diese Elemente mit friedlichen Mitteln zu zügeln, «weshalb die militärischen Einheiten gezwungen waren, sich zu wehren, die Ordnung und die Güter der Stadt, ja eigentlich die Ordnung des ganzen Landes zu verteidigen». Nun hatte er das Gemetzel zwar umschrieben, aber gleichzeitig offiziell zugegeben. Am Donnerstagmittag, dem 21. Dezember, wollte er eine öffentliche Rede halten. Man trieb 20.000 Menschen auf dem Platz der Republik zusammen, und alles begann wie immer, mit bestelltem oder von Tonband gesendetem Jubel, bis etwas geschah, wofür bis heute die hundertprozentige Erklärung fehlt. Wahrend seiner Rede wurden – vielleicht, weil das Tonbandgerät, das gewöhnlich einen zuvor aufgenommenen ohrenbetäubenden Jubel übertrug, für einen Augenblick etwas leiser gestellt worden war – die echten Protestrufe hörbar. Diese lösten zunächst Panik aus, und die Menschenmenge begann vom Platz zu fliehen. Ceauşescu versuche sie zurückzuholen: «Genossen, wo geht ihr hin? Kommt bitte zurück!» Diese Geste sowie seine improvisierten Versprechungen von Lohnerhöhungen führten zu keinem Ergebnis. All dies wurde live im Fernsehen und Rundfunk übertragen und verwandelte sich in eine Selbstentblößung der Schwäche des Regimes. Das Gleiche geschah am nächsten Tag, als die Bukarester auf dem Platz der Republik erstaunteZeugen eines surreal anmutenden Geschehens wurden. Vom Dach des Sitzes des Zentralkomitees erhob sich ein Hubschrauber und bewegte sich in Richtung der nördlichen Außenbezirke. Man brauchte nicht allzu viel Fantasie, um zu begreifen: Der Führer befand sich auf der Flucht. Die Zeit schien stehen geblieben.
    Temesvar – Hauptstadt der Revolution
D IE «T ELEREVOLUTION»
    Die Morgenausgaben der Zeitungen versprachen noch das gewöhnliche Fernsehprogramm:
    19.00 Abendnachrichten
    19.25 Der XIV. Parteitag – der Kongress der großen sozialistischen Errungenschaften
    20.05 Gespräch am Runden Tisch: Die Beschlüsse des XIV Parteitags
    20.25 Kulturprogramm der Pioniere
    20.45 Jugend – Erziehung – revolutionärer Geist
    21.05 Wissenschaftliche Sendung
    21.50 Spätnachrichten
    Stattdessen kam das, was später als «Telerevolution» in die Annalen einging. Das «Volk» besetzte das Fernsehgebäude, es proklamierte und praktizierte die Medienfreiheit. Im Studio 4 herrschte an jenem Freitagnachmittag ein unaufhörliches Kommen und Gehen, Eilmeldungen vom landesweiten Sieg der Revolution und dessen weltweitem Echo wurden verlesen. Unbekannte von der Straße durften unzensiert ihre Meinung über das Geschehen sagen, selbst «geläuterte» Exponenten der gestürzten Macht durften sprechen, und der verhaftete Nicu Ceauşescu wurde vorgeführt. Die eigentliche Sensation bestand jedoch darin, dass die Nachrichten direkt auf dem Bildschirm entstanden, ohne vorherige Redaktion.
    Obwohl diese Inszenierung, wie sich später herausstellte, nur der nahtlosen Übertragung der Macht an die selbst ernannte «Front der Nationalen Rettung» mit dem früheren KP-Funktionär Iliescu an der Spitze diente, gehörte diese kurze Zeit zu den Sternstunden der modernen osteuropäischen Geschichte.
    Aber es folgten ein Massaker mit mehr als tausend Todesopfern, der Geheimprozess gegen das Ehepaar Ceauşescu und ihre Hinrichtung – allesamt Ereignisse, über die bis dato Unklarheit herrscht. Damals wusste man nur, dass die letzte Diktatur dieser Art in Osteuropa gestürzt worden war und dass man zum ersten Mal seit langer Zeit Weihnachten in geheizten Wohnungen und mit warmem Essen feiern konnte.
    Der letzte Dominostein war gefallen.

VI.
D AS E NDE DER S OWJETUNION
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