Lebt wohl, Genossen!
ANUAR 1990 – D EZEMBER 1991 )
Weil ein Nagel fehlte, ging ein Hufeisen verloren.
Weil ein Hufeisen fehlte, ging ein Pferd verloren.
Weil ein Pferd fehlte, ging ein Ritter verloren.
Weil ein Ritter fehlte, ging die Schlacht verloren.
Und nur weil ein Nagel fehlte,
ging ein ganzes Königreich verloren.
Lied eines unbekannten englischen Autors
Im 20. Jahrhundert gingen vier Imperien zugrunde: am Ende des Ersten Weltkriegs das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie, nach dem Zweiten Weltkrieg das Deutsche Reich und Anfang der Neunzigerjahre schließlich die Sowjetunion. Historiker behandeln derartige Prozesse kühl. Norman Davis beschrieb den Untergang der Sowjetunion als einen besonderen Fall: «Die auffälligste Tatsache des sowjetischen Zerfalls war, dass er auf natürlichem Wege vonstatten ging. Die Sowjetunion wurde nicht von Barbaren angegriffen wie Rom, nicht von raubgierigen Nachbarn aufgeteilt wie Polen und starb nicht unter der Last eines großen Krieges wie das Habsburgerreich. Sie erlitt keine Niederlage in einem Kampf um Leben und Tod wie Nazideutschland. Sie starb, weil sie sterben musste …» Selbst über den Putsch vom August 1991, dessen Ziel die Rettung eines Restes des Imperiums war, teilt er nicht die gängige Meinung: «Es handelte sich nicht einmal um einen Staatsstreich, sondern um ein letztes Zucken des Schwanzes eines Dinosauriers.»
Dementsprechend hat es wenig Sinn, über die Verursacher eines derartigen Untergangs zu rätseln. Theorien von Verrat und Verschwörung sind ebenso wenig hilfreich wie der berühmte Konjunktiv «Was wäre gewesen, wenn». Interessant ist eher zu erfahren, wie das Unvermeidliche von den Protagonisten allmählich erkannt wurde und was sie getan haben, um denProzess, wenn sie ihn schon nicht aufhalten konnten, doch wenigstens zu beeinflussen. Nicht zuletzt stellt sich für nüchtern denkende Politiker in solchen Situationen die Frage, wie sie den Schaden begrenzen und die Opfer minimieren können.
D EUTSCHE F RAGE – SOWJETISCHE A NTWORT
Am
26.
Dezember 1989, einen Tag nach der Hinrichtung des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu und seiner Gattin Elena in Targoviste, versuchte Gorbatschows Chefberater Alexander Jakowlew, auch als «Architekt der Perestroika» gerühmt, im Gespräch mit einem jugoslawischen Politiker die vorläufige Bilanz der praktischen Auflösung der «sozialistischen Gemeinschaft» zu ziehen. Merkwürdig an seinem Monolog war die zur Schau getragene optimistische Ruhe. An dem ersten nichtkommunistischen polnischen Regierungschef Mazowiecki fand er angeblich Gefallen, in der ČSSR hoffte er auf die friedliche Mentalität der Gesellschaft, für Bulgarien erwartete er, dass die nach wie vor kommunistische Führungsriege die Probleme des Landes schon lösen würde, über Rumänien konnte er so gut wie nichts sagen, und in Ungarn fand er nur die Spaltung der Kommunistischen Partei besorgniserregend.
Schließlich fiel in Bezug auf die DDR der verblüffende Satz: «Krenz hat einen Fehler gemacht, er ließ die Grenze zu früh öffnen.» Sogar die Maueröffnung kritisierte Jakowlew nur unter dem Gesichtspunkt, dass diese wegen des schwarzen Valutenhandels und der Hamsterkäufe in Westdeutschland der DDR erheblichen ökonomischen Schaden zugefügt habe. Aber, sagte er ergänzend, Kohl habe bereits versprochen, dass die Bundesrepublik die DDR entschädigen würde. Über die Möglichkeit einer eventuellen Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten sagte er: «In der nächsten absehbaren Zeit sind wir kategorisch dagegen. Das haben wir allen westlichen Regierungschefs klar und deutlich gesagt.»
Solche Zusicherungen gehörten zur Hinhaltetaktik der sowjetischen Führung. Denn «in der nächsten absehbaren Zeit», einen Monat nach Jakowlews selbstsicherer Äußerung, fasste das Politbüro, zunächst nur intern, einen historischen Beschluss. Auf der Sitzung am 26. Januar 1990 erklärte KGB-Chef Krjutschkow: «Die Tage der SED sind gezählt. Sie ist weder Hebel noch Stütze für uns. Modrow ist eine Übergangsfigur, hältsich aufgrund von Zugeständnissen, bald aber wird es nichts mehr geben, was man noch zugestehen kann. (…) Allmählich müssen wir unser Volk auf Deutschlands Wiedervereinigung vorbereiten. (…) Es ist notwendig das aktive Eintreten zum Schutz unserer Freunde, der ehemaligen Mitarbeiter des KGB und unseres Innenministeriums in der DDR.» Gorbatschows Schlussrede klang eher wie eine melancholisch-musikalische
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