Lebt wohl, Genossen!
Zusammenfassung der trockenen Worte seines Obersten Geheimpolizisten: «Die Prozesse in Deutschland bringen uns, unsere Freunde und auch die westlichen Mächte in eine komplizierte Lage. Die SED befindet sich im Zerfall. Nun ist klar, dass die Vereinigung unvermeidlich ist, und wir haben kein moralisches Recht, uns ihr zu widersetzen. (…) Unsere Gesellschaft wird schmerzhaft auf die Abtrennung der DDR und noch mehr auf deren Verschlucken durch die BRD reagieren. Millionen von Frontsoldaten leben noch unter uns. (…) Das Bewusstsein unserer Gesellschaft wird ein schwieriges Trauma zu bewältigen haben. Aber es gibt keine andere Möglichkeit, und wir müssen auch dies überleben.» Mit diesen Sätzen wurde die DDR, der letzte Satellitenstaat im Warschauer Vertrag, schlicht und einfach abgeschrieben.
Im Deutsch-Sowjetischen Haus in Dresden residierte der spätere Staats- und Regierungschef der Russischen Föderation, seines Zeichens Oberstleutnant des KGB, Wladimir Putin
In der Tat begann die Evakuierung der sowjetischen Geheimdienste ausdem ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat zu einer Zeit, in der das Thema Auszug der Sowjetarmee noch von niemandem angesprochen worden war. Die DDR mit der geöffneten Mauer war nun ein schwer gefährdetes Operationsgebiet. Unter den Abberufenen befand sich ein 38-jähriger KGB-Major, der in einer Dresdner Villa, heute Sitz der Anthroposophischen Gesellschaft, als Direktor der Deutsch-Sowjetischen Freundschaftsgesellschaft residierte: Wladimir Putin. Der junge Offizier, ausgerechnet in den letzten Tagen der DDR «für die Verdienste um die Nationale Volksarmee» mit einer Bronzemedaille ausgezeichnet, verdingte sich bald nach seiner Rückkehr bei dem Leningrader Bürgermeister Anatolij Sobtschak und begann damit eine steile politische Karriere.
Inzwischen weitete sich der Demokratisierungsprozess in der DDR ähnlich wie in anderen früheren Ostblockstaaten aus. Nach den Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition am Runden Tisch fanden am 18. März 1990 die ersten freien Wahlen zur Volkskammer statt. Die Allianz für Deutschland, der westlichen CDU nahestehend, erhielt 40 Prozent der Wählerstimmen, die SPD war mit 22 Prozent verhältnismäßig schwach, während die postkommunistische PDS mit 16 Prozent relativ gut weggekommen war. Das aus der Menschenrechtsopposition formierte Bündnis 90 erlitt mit 2,9 Prozent eine vernichtende Niederlage. Dies zeigte, dass die Energien der «friedlichen Revolution» weitgehend erschöpft waren – ihr letztes Aufflackern war der Sturm auf die Berliner Stasi-Zentrale im Januar 1990.
D IE G NADENFRIST
Allerdings erwies sich der Spielraum der demokratisch legitimierten Regierung von Lothar de Maizière als recht eng gesteckt: Ihr Mandat bezog sich auf die Abwicklung der früheren Strukturen und die Vorbereitung der Wiedervereinigung. Die letzten Monate der DDR zeigten ein Land zwischen Aufbruchstimmung und wachsender Unsicherheit. Am Vorabend der Währungsunion kam es zu massenhaftem Schwarzumtausch und tumultartigen Szenen vor den provisorisch aufgestellten Filialen westdeutscher Geldinstitute. Viele Bürger investierten ihre Ersparnisse in Konsum, und Reisebüros mit einer großen Auswahl an Sonderangeboten schossen wie Pilze aus dem Boden.
Inzwischen war die Wiedervereinigung nur noch eine Frage der Modalitäten, wie dieser Erdrutsch diplomatisch ausgehandelt werden und in einigermaßen geschmackvollen Formen vor sich gehen konnte. Endgültig beschlossen wurde das Projekt zwischen Gorbatschow und Kohl Mitte Juli im kaukasischen Archis, nach dem lockeren Erscheinungsbild des Bundeskanzlers und des sowjetischen Präsidenten von den Medien als «Begegnung von Strickjacke und Pullover» apostrophiert. Die Meinungen über das Unvermeidliche blieben aber auf den höchsten Machtetagen geteilt: Während Jakowlew den zögernden sowjetischen Staatschef vor «sentimentalen Hemmungen» warnte, äußerte der Deutschlandexperte Walentin Falin sich skeptisch gegenüber einer allzu schnellen deutschen Einheit, zudem aus seiner Sicht die Sowjetunion zu niedrige Gegenleistungen beanspruchte. In Wirklichkeit war die UdSSR zu dieser Zeit nicht mehr in der Lage, auf Osteuropa Einfluss zu nehmen, und schon bald war sie auch nicht mehr imstande, die Prozesse innerhalb des eigenen Landes aufzuhalten.
Viel offener als Jakowlew gab der Berater Tschernjajew die Tragweite der osteuropäischen Veränderungen zu – wohlgemerkt nur in seinem zu jener Zeit noch
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