Lebt wohl, Genossen!
Bitte zu erörtern, dabei ist SOS-Alarm, denn in einigen Regionen droht bereits der Hunger, in den Kusbass-Bergwerken beginnt der Streik, man ruft ‹Nieder mit dem Präsidenten!› In den Lebensmittelläden der großen Städte sind die Regale buchstäblich leer. Michail Sergejewitsch bittet Kohl um dringende Hilfe – er soll die Banken zwingen, Kredite zu eröffnen und vorauszuzahlen, mit dem Militärvermögen als Pfand, das unsere Truppen nach dem Verlassen Deutschlands zurücklassen werden.»
Im November 1991 erklärte die Außenhandelsbank ihren Bankrott, die Kosten der sowjetischen Botschaften und Handelsvertretungen ließen sich nicht mehr decken, selbst die Mittel für die Rückreise der Diplomaten fehlten. «Michail Sergejewitsch», notiert Tschernjajew, «hat mich beauftragt, an Major als Koordinator der ‹Sieben› zu schreiben … ‹Dorogoj Dschon! Spassaj!› (Lieber John! Rette).»
Der hier apostrophierte britische Politiker John Major, Finanzminister, Außenminister und bald danach der Nachfolger von Margaret Thatcher, hatte Mitte Juli 1991 den sowjetischen Staatschef in London empfangen. Offensichtlich konnte man die Einladungswünsche des weltweit geachteten, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Gorbatschow nicht einfach ignorieren. Aber die märchenhaften rettenden 100 Milliarden Dollar gehörten bereits in das Reich der Fantasie. Die «Glorreichen Sieben» – der Film mit diesem Titel wurde übrigens mit Chruschtschows persönlicher Erlaubnis auch in den sowjetischen Kinos gespielt und erwies sich jahrzehntelang als Publikumsmagnet –, die führenden Industriemächte der Welt hatten bereits kein Vertrauen mehr in die aktuelle Kremlmannschaft. Für Major, in seinem früheren Leben Versicherungsagent, galt das vielleicht noch mehr als für die anderen. Und Gorbatschow wusste bereits, dass seine Position ins Wanken gekommen war – wie sehr dies der Fall war, musste er schon bald nach seiner Rückkehr aus London erfahren.
D AS D RAMA L ITAUEN: Z WEITER A KT
«Parade der Souveränitäten» hieß der 1990 beginnende Prozess der Abnabelung der Republiken von der Moskauer Zentrale. Abgesehen von den immer stärker werdenden Unabhängigkeitsbewegungen – die litauische Sajudis, die ukrainische Narodnij Ruch oder die aserbaidschanische NationaleFront – wurde dieser Prozess auch von ökonomischen Faktoren begünstigt. In dem Maße, wie die sowjetische Wirtschaft ihre Funktionsfähigkeit eingebüßt hatte, waren die wirtschaftlichen Kontakte zwischen Zentrum und Peripherie ins Stocken geraten. Es haperte vor allem bei den Erdöllieferungen und der Energieversorgung. Das war in erster Linie für Gebiete ohne eigene Rohstoffquellen eine Frage von Leben und Tod. Die Republiken wählten bei der Verteidigung ihrer Interessen den Weg des geringsten Widerstandes: Sie blockierten ihrerseits die Lieferungen für das Zentrum, wobei es sich dabei vor allem um Agrarprodukte handelte. Einige nationalkommunistische Regierungen spielten bereits mit dem Gedanken, statt des zunehmend inflationären Rubels ihre eigene Währung einzuführen. Am weitesten ging Litauen, als es sämtliche an der Grenze konfiszierte Schmuggelwaren zur Auffüllung der eigenen Staatskasse verwendete, statt diese Güter wie bisher restlos der zentralen Zollbehörde zur Verfügung zu stellen. Obwohl der dadurch entstandene materielle Verlust für die Zentrale eher geringfügig war, reagierte Moskau, als sei dies ein Casus Belli. Der Einmarsch sowjetischer Landungstruppen und Panzereinheiten in Wilna, die Abriegelung der Hauptstadt von der Außenwelt und vor allem die 14 Todesopfer, allesamt unbewaffnete Bürger, bei derBesetzung der Fernsehzentrale erweckten den Eindruck, dass der Kreml nun auch blutige Zusammenstöße in Kauf nahm, um den Status quo zu erhalten. Bei der militärischen Planung dieser letzten brutalen Aktion der Streitkräfte rechnete man eindeutig mit dem zeitgleichen Luftkrieg der USA gegen den Irak. Allerdings löste das harte Durchgreifen unionsweit massive Proteste aus, und die westliche Welt gab zu verstehen, dass sich diese Vorgehensweise auf ihre ökonomische Hilfsbereitschaft auswirken könnte.
Wilna 1991: Die Panzer kamen, um den angeblichen sowjetfreundlichen Kräften zu helfen – sie führten nur zu einem militärisch sinnlosen Blutvergießen
Die Kremlführung distanzierte sich daraufhin von der Operation bzw. schob die Verantwortung auf einzelne Militärs. Dasselbe war bereits im März 1989 bei den
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