Lee, Julianne
wie Sìles älteste Tochter, ihr Kleid schimmerte schneeweiß, und die weißen Flügel hingen traurig herunter. Spitze Ohren lugten aus dem kurzen, silbrigen Haar, die blauen Augen waren rot gerändert. Leise schluchzend wiegte sie sich hin und her. Die Nasenspitze war vom Weinen gerötet.
Ciaran hatte dieses Wesen schon einmal gesehen, im Traum, wie er immer gedacht hatte. Seit Jahren war ihm dieser Traum nicht mehr eingefallen, aber jetzt sah er jede Einzelheit wieder klar und deutlich vor sich. Er erinnerte sich an diese Fee.
»Sinann?«
2. KAPITEL
Das Hemd war aus Seide, vorne mit Spitzenrüschen verziert, die Knöpfe bestanden aus Elfenbein, nur der schmale Esagen wurde mit einer kleinen Perle geschlossen. Der Stoff fiel ihm bis über die Hüften und bedeckte knapp sein Gesäß.
Ciaran wusste, dass er die Fee nicht zu auffällig anstarren durfte. Also blickte er wieder auf den leblosen Körper seines Vaters hinab, der so entsetzlich reglos dalag. Am liebsten hätte er ihn gepackt, ihn geschüttelt und ihn angefleht, doch wieder aufzuwachen, doch er riss sich zusammen.
»Kommt«, sagte er zu den anderen. »Sìle, Kirstie, Mary, kommt mit. Lasst Mutter Sarah einen Augenblick mit ihm allein.«
Die anderen gehorchten und ließen Sarah bei ihrem Mann zurück, dessen Hand sie noch immer unaufhörlich streichelte. Dabei flüsterte sie ihm zu, wie sehr sie ihn liebte und dass sie ohne ihn nicht leben könne. Ciaran verließ als Letzter den Raum und zog leise die Tür hinter sich zu. Dabei dachte er daran, wieviel sein Vater ihr bedeutet hatte. Seit er denken konnte - auch schon vor ihrer Hochzeit - hatte sich Sarahs ganze Welt nur um Pa gedreht Sie würde über seinen Tod nie hinwegkommen, und er trug jetzt auch noch für sie die Verantwortung.
Eine Magd kam herbei, um sich um den toten Laird zu kümmern. Sie würde den Leichnam entkleiden, waschen und dann in das Leichentuch einnähen, in dem man ihn bestatten wollte. Danach würde man ihn in der großen Halle aufbahren, wo die Familie und die Clansmitglieder die Nacht lang bei ihm wachen mussten. Die Beerdigung würde dann am nächsten Morgen stattfinden. Ein Bote war bereits ausgesandt worden, um die Nachricht vom Tod des Lairds in Glen Ciorram zu verbreiten. Die Familie versammelte sich in der großen Halle. Ciaran wandte sich mit gedämpfter Stimme an Robin: »Es gibt da wohl bereits Grabsteine, nicht wahr?«
Der Freund seines Vaters nickte. »Aye, sie stehen im Stall, ich habe sie mit einer Pferdedecke zugedeckt. Die Inschriften sind schön eingemeißelt.«
Ciaran erschauerte. Es hatte so vieles gegeben, was er an seinem Vater nicht verstanden hatte, und dazu gehörte auch der Umstand, dass er seinen Grabstein - und den seiner Frau - schon viele Jahre vor seinem Tod hatte anfertigen lassen. Doch er sagte nur: »Och.«
Robin verstand dennoch. »Vielleicht wollte er seinen Erben die Ausgaben ersparen.«
»Möglich.« Es war eine völlig überflüssige Ausgabe, so viel stand fest, denn nur die sehr Reichen konnten sich Grabsteine aus Marmor leisten. Er begriff nicht, warum Pa sie überhaupt für notwendig gehalten hatte.
Verstohlen hielt er nach der Fee Ausschau, doch sie war verschwunden. Vielleicht war sie lediglich ein Produkt seiner überreizten Fantasie gewesen, dennoch hegte er den schlimmen Verdacht, sie könne ebenso real sein wie er selbst.
Die Kinder und Enkel Dylan Mathesons nahmen auf den Stühlen und Bänken in der großen Halle Platz. Die Frauen schluchzten leise, die Männer hingen schweigend ihren trüben Gedanken nach. Eine Magd kam zu Ciaran und drückte ihm etwas in die Hand. Mit wehem Herzen blickte er auf die schwere Silberkette seines Vaters, an der das kleine hölzerne Kruzifix mit dem goldenen Leib Christi und der Ehering seiner Mutter hingen.
Sìle, die blicklos ins Feuer starrte, seufzte. »Armer Robbie.«
Ciaran nickte, während er sich die Kette über den Kopf streifte. Armer Robbie. Er hatte es schließlich doch nicht geschafft, Ciorram rechtzeitig zu erreichen, um mit seinem Vater ein letztes Mal reden zu können. Sie alle hatten darauf gehofft, denn es hatte sich um den letzten Wunsch eines Sterbenden gehandelt.
Der Tag verstrich unsäglich langsam, die Nacht zog sich noch quälender dahin. Fast der gesamte Clan nahm an der Totenwache in der großen Halle der Burg teil. In der Küche herrschte Hochbetrieb. Ein Rind und mehrere Schafe wurden geschlachtet und gebraten, unzählige Brotlaibe gebacken und verzehrt, Gallonen
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