Lee, Julianne
Fassung rang. Tränen traten ihr in die Augen, doch sie hielt sie zurück. Sie würde nicht weinen. Ciaran würde am Leben bleiben. Er musste einfach zu ihr zurückkommen.
Martha trat zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern, und damit war es um Leahs Selbstbeherrschung geschehen. Schluchzend barg sie den Kopf an Marthas Schulter und weinte, bis keine Tränen mehr kamen.
Bald darauf traf eine Nachricht von ihrem Vater ein. Seine Kompanie war in die Garnison von Edinburgh zurückgekehrt Die Botschaft war sogar für ihren ohnehin wortkargen Vater sehr knapp und schroff gehalten, aber wenigstens wusste Leah nun, dass es ihm gut ging. Die Jakobiten hatten zwar die Stadt eingenommen, nicht jedoch die Burg, die noch immer von den Soldaten des Königs gehalten wurde.
Am ersten Oktober stand sie auf dem Lawnmarket und starrte in der Hoffnung, einen flüchtigen Blick auf ihren Vater erhaschen zu können, zur Burg hinüber. Aber sie musste bald einsehen, dass sie ihn ohnehin nicht erkennen würde, die Entfernung war zu groß. Die Wachposten behielten die Jakobiten auf der anderen Seite der steinigen Ebene, die die Burg von der Stadt trennte, scharf im Auge. Die Highlander in ihren Kilts starrten unverwandt zurück.
Leah trödelte, eine Tasche mit soeben erstandenen Backwaren am Arm, auf dem Lawnmarket herum und überlegte, ob sie sich nach Ciaran erkundigen sollte. Aber ihre Furcht vor den rauen Highlandern war zu groß, und so begnügte sie sich damit, zu
ihrem Lager hinüberzuschauen und zu hoffen, dass sie ein bekanntes Gesicht entdeckte. Das des jungen Robbie vielleicht, oder das von Eóin, der stets einen recht umgänglichen Eindruck gemacht hatte.
Eine Frau kam mit einer Handvoll aus Seidenband gefertigter weißer Rosen an ihr vorbei, die sie den Passanten für ein paar Pence zum Kauf anbot.
»Warum denn das?«
Die Alte grinste sie an, wobei sie ein schadhaftes braunes Gebiss entblößte. Ihr schmuddeliges rotes Seidenkleid hatte schon bessere Tage gesehen, aber sie trug einen nagelneuen Wollschal mit Tartanmuster. Leah kam es so vor, als würde neuerdings jeder in der Stadt Tartan tragen. »Weiße Rosen sind das Wappenzeichen unseres Prinzen«, erklärte sie, wobei sie Leah hoffnungsvoll ansah. »Unterstützt Ihr die Sache, Miss?«
Obwohl Leah sich darüber im Klaren war, dass sie Ärger bekommen würde, falls jemand sie beobachtete, streckte sie die Hand aus und nahm eine kleine weiße Rose entgegen. Dann griff sie in den Geldbeutel unter ihren Röcken und gab der Alten ein paar Münzen.
»Aye«, brummte die Frau, »Ihr seid eine kluge junge Lady. König James wird siegen!« Mit einem breiten Lächeln setzte sie ihren Weg fort.
Leah starrte die Rose einen Moment lang an, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Wachposten des Jakobitenlagers und bemerkte, dass die Männer samt und sonders identische weiße Rosen an ihren Wollkappen trugen.
Noch während sie sie beobachtete, drehte sich einer der Jakobiten plötzlich mit dem Rücken zur Burg, hob seinen Kilt und zeigte den englischen Wachposten sein behaartes weißes Gesäß. Leah unterdrückte ein Kichern, als er begann, anzüglich damit zu wackeln.
Doch dann stieg über den Kanonen auf der Burgmauer eine Rauchwolke auf, und einen Moment später war ein Einschlag
hören. Der Jakobit ließ seinen Kilt fallen und fuhr herum, dann schrie er etwas auf Gälisch, was verdächtig nach einem bösen Fluch klang, und warf sich zu Boden, als ein Hagel aus Stein, Holz und Glas auf ihn niederprasselte. Der nächste Kanonendonner riss die Menschen aus ihrer Erstarrung, und sie ergriffen Hals über Kopf die Flucht.
Der Jakobit ordnete sofort auf Englisch die Evakuierung der umliegenden Gebäude an. Immer mehr Menschen strömten aus ihren Häusern, als weitere Kanonenschüsse fielen. Leah jedoch vermochte sich nicht von der Stelle zu rühren. Sie konnte nicht begreifen, was hier geschah. Ihr Vater befand sich dort drüben in der Burg. Er war Offizier, warum also hielt er seine Männer nicht zurück? Wie konnte er zulassen, dass die Stadt unter Beschuss genommen wurde, wo er doch wusste, dass seine eigene Tochter sich dort aufhielt? Eine kleine warnende Stimme in ihrem Hinterkopf riet ihr, sich schleunigst in Sicherheit zu bringen, doch ihre Beine waren wie gelähmt. Die Schmerzensschreie der Menschen gellten in ihren Ohren; überall entdeckte sie Tote und Verletzte in den Trümmern der Häuser. Wie konnte ihr Vater nur so etwas tun?
Ganz in ihrer Nähe
Weitere Kostenlose Bücher