Lee, Julianne
sorgfaltig einstudiert; was es bedeutete, ein wahrer Gentleman zu sein, konnte er natürlich nicht ahnen.
Trotzdem konnte sie den Blick kaum von ihm losreißen. Für einen Schotten war er unglaublich gut gebaut, schlank und muskulös, mit geradem Rücken und langen Beinen, und seine ganze Haltung verriet stolze Würde. Flüchtig fragte sie sich, ob er wohl der Bastard eines englischen Adeligen war. Sie fand diese Vorstellung äußerst erheiternd, und wenn sie zutraf, würde das vieles erklären, was sie an ihm nicht verstand.
Sobald ihr Vater und der junge Laird alles Notwendige besprochen hatten, führte eine Magd sie durch einen schmalen Gang zu ihren Unterkünften. Über eine Wendeltreppe in einem der Türme gelangten sie in den zweiten Stock, wo ihrem Vater eine
Schlafkammer zugewiesen wurde. Leah selbst wurde im dritten Stock untergebracht.
Ihre Kammer war recht geräumig, nur gab es leider keine richtigen Fenster, sondern nur mit hölzernen Läden versehene Schießscharten. Während die Mägde ihre Sachen auspackten und ihr Bett herrichteten, trat sie seufzend an eine dieser Schießscharten, packte den eisernen Griff der Holzplatte, die sie verschloss, zog sie heraus und lehnte sie an die Wand. Die Abendluft war kalt, und ein frischer Wind blies ihr ins Gesicht. Ihre Kammer ging auf den See hinaus, über dem sich der Himmel tiefrot verfärbte. Die Wasseroberfläche lag spiegelglatt da, die hohen Berge, die den See umgaben, spiegelten sich glasklar darin wider.
Der Anblick war zu viel für sie. Alles wirkte so ... abweisend. Sie war in einer fremden, wilden Welt gefangen, in der sie sich wohl niemals heimisch fühlen würde. Wüchsen ihr doch nur Schwingen! Dann könnte sie einfach über diese Berge hinwegschweben, immer Richtung Süden, zurück zu den sanft gewellten grünen Wiesen, den gut ausgebauten Straßen und den gepflegten Wäldern ihrer Heimat, wo die Menschen einander höflich und mit Respekt behandelten und wo die öffentliche Zurschaustellung von Gefühlen als unschicklich galt, weshalb man seine Wut oder seinen Schmerz hinter einer Fassade aus glatten Manieren verbarg.
Nachdem ihre Truhen ausgepackt und ihre Habseligkeiten verstaut waren, schloss sie die Schießscharte wieder, drehte sich um und schickte alle Mägde außer ihrer Zofe fort. Die schwere geschnitzte Tür schloss sich leise knarrend hinter ihnen. Die Zofe nahm ihren Umhang ab und legte ihn auf die für sie bestimmte niedrige Pritsche neben dem Kamin, die eigentlich nur aus einer mit einem Leinenlaken und einer Wolldecke versehenen Strohmatratze in einer langen, schmalen Holzkiste bestand.
Die Matratze des großen Bettes aus Eichenholz war dagegen mit Federn gefüllt. Seidenes Bettzeug gab es zwar nicht, dafür lag eine dicke Pelzdecke auf dem Laken. Ein Bärenfell, stellte sie fest, während sie mit der Hand über die dichten braunen Haare strich. Ein strenger Geruch lag in der Luft, ähnlich wie Holzrauch, aber nicht ganz so beißend. Leah schnupperte ein paar Mal und fand ihn abstoßend.
Die Zofe trat hinter sie und machte Anstalten, ihr den Umhang abzunehmen, doch Leah wehrte ab. »Es ist zu kalt hier drinnen.« »Soll ich das Feuer schüren, Miss?«
Leah nickte. Die Zofe machte sich am Kamin zu schaffen, dann wandte sie sich wieder an ihre Herrin. »Möchtet Ihr, dass ich Euch aus der Küche etwas zu essen hole, Miss?«
Leah verspürte nicht den geringsten Appetit, doch das Mädchen war sicher hungrig, also nickte sie erneut. »Tu das... äh... Ida.« Sie konnte sich den Namen der Zofe einfach nicht merken. Ida verließ den Raum.
Leah wartete an der Tür, bis ihre Schritte auf der Wendeltreppe verklungen waren, dann schob sie die Tür auf und huschte in die davor liegende Nische hinaus. Kerzen brannten in Wandleuchtern und wiesen ihr den Weg, als sie mit gerafften Röcken in das nächsthöhere Stockwerk schlich.
Hier lag die Nische im Dunkeln, und die Tür zu der Kammer dahinter war geschlossen. Leise tappte sie weiter nach oben. Die Ledersohlen ihrer Schuhe glitten lautlos über den kalten Steinboden. Im fünften Stock sah sie Lichtschein, der aus der weit geöffneten Tür einer Kammer drang. Einen Moment lang blieb sie unschlüssig am Treppenabsatz stehen und fragte sich, welche Folgen ihr Abenteuer für sie haben konnte. Gott allein mochte wissen, was diese Barbaren mit ihr anstellen würden, wenn sie sie hier entdeckten. Sie bekam eine Gänsehaut, und ihr Magen kribbelte vor Furcht und Aufregung.
Die Neugier siegte
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