Lee, Julianne
über die Vernunft. Lautlos pirschte sie sich an die Tür heran, wo sie ein leises Gemurmel vernahm. Es war die Stimme eines Mannes; dem Klang nach zu urteilen musste er schon sehr alt sein. Vorsichtig spähte sie um den Türrahmen herum. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, schnappte sie unwillkürlich nach Luft.
Vor den hohen, schmalen Fenstern der Kammer stand ein Kniestuhl aus Mahagoni. Darauf kniete ein nur mit einem langen Leinenhemd bekleideter Mann. Sein ergrauendes braunes Haar war nass, er schien es gerade gekämmt zu haben, und der Bart war sorgfältig gestutzt. Er ließ eine Perlenkette durch die Finger gleiten, an der ein kleines Kruzifix baumelte. Dazu murmelte er lateinische Worte vor sich hin. Er betete den papistischen Rosenkranz!
Leah war zutiefst schockiert. Natürlich gab es sogar in England noch Menschen, die den geltenden Gesetzen zum Trotz unbeirrt am katholischen Glauben festhielten, aber sie hatte noch nie einen bei der Ausübung seiner Religion beobachtet. Wie gebannt lauschte sie, obwohl sie außer >Maria< und >Patri< kein Wort verstand. Die Sprache gefiel ihr, das lag wohl an der Art, wie dieser Mann betete. Die Worte flossen ihm schnell und leicht über die Lippen, trotzdem merkte Leah, dass er mit ganzem Herzen bei der Sache war. Seine Stimme hob und senkte sich im Rhythmus des Gebetes. Sie spürte, wie sehr er dieses Ritual liebte. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, während der Mann die Perlen seines Rosenkranzes leise klappernd zwischen seinen Fingern hindurchgleiten ließ.
Dann sagte er: »Amen.«
Oh-oh. Dieses Wort kannte sie ebenfalls, es bedeutete, dass das Gebet beendet war. Sie zog sich in den Schatten zurück und floh, ehe er sich mit steifen Knien von seinem Stuhl erheben konnte. In ihrer Verwirrung lief sie die Treppe weiter hinauf, statt in ihre Kammer zurückzugehen, und als sie ihren Irrtum bemerkte, war es zu spät, um unbemerkt umkehren zu können. Also setzte sie ihren Erkundungsgang fort. Sie war gespannt, was es in dieser Burg noch alles zu entdecken gab.
Am Ende der Treppe war eine kleine Tür. Leah öffnete sie vorsichtig und trat in die einbrechende Dunkelheit hinaus. Der Nachtwind, der vom See herüberwehte, zerrte an ihrer Kleidung und schien noch die kleinste Öffnung zu finden. Leah schlang ihren Umhang enger um sich und blickte sich um. Die mit Zinnen bewehrte Brustwehr kam ihr jetzt viel größer vor als vom Burghof aus. Die Steine waren kalt, feucht und bröckelten an vielen Stellen ab. Direkt hinter dem Wachturm stieß sie auf eine winzige, direkt in die Mauer gehauene Latrine. Sehr gut. Nun wusste sie, wohin sie sich wenden konnte, wenn sie ihre Notdurft verrichten musste. Den Luxus eines Nachttopfes durfte sie in dieser Wildnis wohl nicht erwarten.
Langsam schlenderte sie die Brustwehr entlang, strich dabei mit den Fingern über den rauen Stein und blickte zum sternenübersäten Himmel empor. Der Gedanke, dass dies dieselben Sterne waren, die auch über England leuchteten, mutete seltsam an, denn der Himmel hier wirkte ganz anders - kalt, fremd und bedrohlich. Wieder drohte das Heimweh sie zu überwältigen. Sie musste gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. Wenn sie doch nur nach England zurückkehren könnte!
Ein Schrei, der vom Burghof zu ihr heraufhallte, riss sie aus ihrer Trübsal. Neugierig spähte sie nach unten. Im Hof brannten einige Fackeln und warfen ihren flackernden Schein auf zwei Dragoner, die am Torhaus Wache standen. Ihre roten Uniformen wirkten an diesem finsteren Ort seltsam tröstlich. Dann entdeckte sie einen dritten Mann, der in der Mitte des schmutzigen Hofes eine Art Tanz vollführte. Einen Tanz ohne Musik. Gelegentliche Grunzlaute brachten sie zu der Überzeugung, es müsse sich um einen Irrsinnigen handeln, der einen Anfall erlitten hatte, doch die Dragoner machten keine Anstalten, ihn an seinem Tun zu hindern. Sie standen nur da und verfolgten die Vorstellung gelangweilt. Bald erkannte Leah, dass alle Bewegungen des Mannes einen bestimmten Sinn ergaben. Sie fragte sich, ob dies der berühmte Schwertertanz der Highlander war, von dem sie so viel gehört hatte. Aber nein, der Mann benutzte ja gar kein Schwert. Noch nicht einmal einen Dolch. Er führte nur Schläge und Tritte gegen einen unsichtbaren Gegner. Etwas Vergleichbares hatte sie
noch nie gesehen.
Dann drehte er sich zu ihr um, und sie erkannte ihn sofort. Es war Ciorram. Dieser Ciaran Matheson. Sie war sich ganz sicher, denn außer ihm trug kein Schotte sein
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