Lee, Julianne
Dorfplatz ritten, schien er menschenleer zu sein. Nur ein kleiner Junge starrte sie durch ein winziges Fenster an. Nackte Angst stand in seinen Augen zu lesen, und als Leah ihm zuwinkte, zog er sich in den Schutz des dunklen Torfhäuschens zurück.
Die Burg, von der ihr Vater ihr erzählt hatte, war ein uraltes,
scheußliches graues Gemäuer, das an ein Stück schimmeligen, angeknabberten Käse erinnerte. Zwei zinnenbewehrte Türme erhoben sich in den hinteren Ecken, das Torhaus war ein unansehnlicher, verwinkelter Kasten, dem sogar der sonst übliche geschwungene Torbogen fehlte. In dem dahinter liegenden Burghof trafen Leah und ihr Vater endlich auf ein paar Schotten, die bei ihrem Anblick nicht augenblicklich davonliefen. Doch auch sie schienen ständig auf der Hut zu sein; bereit, beim ersten Anzeichen für Unannehmlichkeiten die Flucht zu ergreifen. Leah presste verächtlich die Lippen zusammen. Ein tapferes Völkchen, wahrhaftig!
Die Burgbewohner, die in dem ummauerten Hof standen und sie anstarrten, als hätten sie noch nie zuvor einen Engländer zu Gesicht bekommen, wirkten geradezu abstoßend. Schmutzige, in diese lächerlichen Kilts gekleidete Männer kamen aus einem aus Holz erbauten Gebäude, das sie für einen Stall hielt. Schlampige Frauen in zerlumpten Kleidern standen am Gatter des stinkenden Viehpferches und unterhielten sich. Einige Schweine grunzten aufgeregt. Sie erschienen Leah intelligenter als ihre Besitzer, weil sie nicht ganz so stumpfsinnig dreinblickten. Immer mehr Männer und Frauen strömten aus der mächtigen Tür, die wohl zur großen Halle führte. Einige waren noch schmutziger als die anderen, aber alle trugen zerschlissene Leinenhemden oder Unterkleider und darüber diese bunt karierten Wollbahnen, die alle so zu lieben schienen. Leah konnte sie kaum voneinander unterscheiden. Viele Männer trugen gleichfalls karierte Strümpfe, die Frauen und Kinder gingen allesamt barfuß.
Während ihr Pferd unruhig mit den Hufen scharrte und den Kopf zurückwarf, suchte Leah die Menschenmenge nach dem >Laird< ab. Sicherlich machte er einen respektableren Eindruck als diese Leute, bei denen es sich um die Dienstboten handeln musste. Bitte, lieber Gott, mach, dass dies die Dienerschaft ist!
Einer der Soldaten ihres Vaters kam zu ihr, um ihr bei Absitzen behilflich zu sein, und fasste sie um die Taille. Sie lächelte ihm zu,
hoffte auf irgendeine Reaktion, doch sein Gesicht blieb unbewegt. Vorsichtig setzte er sie ab. Ihr Vater verlangte unterdessen den Laird von Ciorram zu sprechen.
Laird. Was für ein seltsamer Titel. Es klang wie eine Verballhornung von >Lord<. Leah strich ihren Umhang glatt und trat ein paar Schritte von dem Dragoner weg, der offenbar zu ihrem Schutz abgestellt war, weil sie sehen wollte, was hier vor sich ging. Doch sie war von zu vielen Soldaten und Schotten umringt, um viel mitbekommen zu können. Als sie sich reckte, sah sie einen hoch gewachsenen Mann im Kilt auf ihren Vater zuschreiten.
»Was gibt es?« Er sprach mit ausgeprägtem Akzent, war aber gut zu verstehen. Sein Ton klang barsch. Leah zwinkerte und beäugte diesen ungehobelten, unverschämten Burschen neugierig.
Der Schotte war sogar noch größer als ihr Vater, der die meisten Männer um einiges überragte. Niemand hier schien zu wissen, dass es Perücken gab, und dieser Mann bildete keine Ausnahme. Sein langes, glattes Haar war fast schwarz, und obwohl er es in dem halbherzigen Versuch, zumindest ansatzweise zivilisiert zu erscheinen, im Nacken zusammengebunden trug, hatte sich eine kürzere Strähne aus dem schwarzen Band gelöst und fiel ihm ins Gesicht. Gott sei Dank war er glatt rasiert, sonst wäre sie bei seinem Anblick wohl in Ohnmacht gesunken. Seine Haut war sonnengebräunt, aber nicht so wettergegerbt wie die der Bauern, sondern so glatt wie sein Haar. Die rosige Färbung seiner Wangen ließ seinem Tonfall nach zu urteilen auf mühsam unterdrückte Wut, aber auch auf eine robuste Gesundheit schließen. Je länger sie ihn betrachtete, desto starker beeindruckte er sie. Seine blauen Augen erinnerten sie an Seen im Sommer, auch wenn sie im Moment vor Zorn blitzten.
Ihr Vater erwiderte mit formvollendeter Höflichkeit, obgleich ihn der unfreundliche Empfang ärgern musste: »Ich möchte mit Dylan Matheson sprechen, wenn es Euch nichts ausmacht. Oder mit seinem Vertreter. Wie ich hörte, ist er selbst indisponiert.«
Der Schotte schnaubte verächtlich. Seine Wangen liefen noch
dunkler an; die
Weitere Kostenlose Bücher