Leerer Kuehlschrank volle Windeln
Christin kennengelernt habe, ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich zum ersten Mal auf die Familie meiner Traumfrau treffen soll. Sie wohnt in einem kleinen Ort bei Freiberg in Sachsen, am Fuße des Erzgebirges. Auf der Fahrt dorthin bin ich so aufgeregt wie bei einem Vorstellungsgespräch. Obwohl mich Christin gut vorbereitet hat, fühle ich mich so unvorbereitet wie noch nie.
»Ich bin der Vater«, sagt der Mann an der Wohnungstür mit einem leicht grimmigen Gesichtsausdruck und bittet uns herein. Noch unschlüssig, ob ich sagen soll, dass ich »Herr Richardt« oder einfach nur »Mario« bin, stolpere ich mit »Äh … und ich bin der neue Freund« in die Wohnung.
»Ihr könnt ja erst mal ins Wohnzimmer gehen, ich bin noch am Kochen.«
Machen wir. Wir setzen uns aufs Sofa, und ich frage meine Liebste, ob denn ihr Vater immer so grimmig dreinblickt.
»Da musst du dir keine Sorgen machen«, erwidert sie, »er guckt immer so, und außerdem ist er etwas schüchtern. Aber du wirst sehen, es dauert nicht lange, dann kommt er aus sich heraus.«
Während wir so vor uns hin warten, sehe ich mich ein bisschen im Zimmer um. Es ist gemütlich eingerichtet. Im Schrank sind ein paar erzgebirgische Holzfiguren aufgereiht.
Sofort fallen mir die vielen DVD s ins Auge, die im Regal stehen. Da ich ein Filmfan bin, sehe ich mir die Sammlung näher an, finde allerdings keinen einzigen Film. Mein zukünftiger Schwiegerdad hat massenhaft Musik- DVD s. Und er scheint ein Riesen-Fan von Neil Young zu sein. Den Namen habe ich schon mal gehört, aber was Herr Young so singt, weiß ich nicht wirklich. Eben eine andere Generation. Insgesamt zähle ich 24 Musik- DVD s allein von Neil Young und dazu noch 55 weitere, unter anderem von The Who, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Joe Cocker und den Rolling Stones. Der Papa meiner Freundin ist offenbar ein richtiger Hardcore-Fan.
Kaum habe ich die Sammlung inspiziert, ruft uns Christins Vater zum Essen. Wir setzen uns an den Tisch, mein designierter Schwiegervater serviert, und vor mir steht ein Gericht, das ich noch nie gesehen, geschweige denn gegessen habe. Es sind geschnittene, rötlich-graue Scheiben Fleisch, dazu Gemüse und Kartoffeln. Das Fleisch sieht irgendwie seltsam aus, anders als mir bekannt und definitiv weder Rind, Schwein, Geflügel, Kaninchen oder Pferd.
»Ich hoffe, du magst Zunge. Wir lieben das, und das Rezept wird schon seit Generationen weitergegeben«, sagt auf einmal der Herr des Hauses.
»Zu … Zunge! Äh … ja na klar. Da stehe ich total drauf«, schwindle ich spontan, um nicht gleich ein Problemgesprächsthema loszutreten.
Gleichzeitig nehme ich das Fleisch vorsichtig unter die Lupe und erkenne sogar die einzelnen Geschmacksknospen auf der Zungenoberfläche. Mir dreht sich leicht der Magen um. Grundsätzlich kann ich mit Innereien nichts anfangen. Gehört das eigentlich auch noch zu Innereien? Moment … Es liegt mir auf der Zunge. Kleiner Spaß am Rande … Doch tatsächlich ist mir nicht zum Scherzen zumute. Ich will nichts essen, was andere schon im Mund hatten! Igitt! Andererseits esse ich ja auch Eier, und die kommen noch ganz woanders her. O Gott, wie komme ich aus dieser Geschichte bloß heraus?
Gar nicht! So sehr mir mein Kopfkino nun dazwischenfunkt: Ich muss das Zeug jetzt irgendwie loswerden. Und da sich kein Haustier in der Nähe befindet – oder besser gesagt, bis auf ein paar Fische (die keine Piranhas sind) überhaupt keine Tiere in der Wohnung sind –, führt der einzige Weg über die Variante: Augen zu und durch! Oder besser: Mund auf und durch! Ich schneide die Zunge in möglichst kleine Stücke und versuche sie im Ganzen, ohne zu kauen, herunterzuschlucken. Dazu mache ich wohlige Geräusche, um zu bedeuten, dass es mir außerordentlich schmeckt. Ich fühle mich wie Brigitte Nielsen im Dschungelcamp. Die Frau war hart im Nehmen und hat gemampft und geschluckt, was ihr vorgesetzt wurde – egal, was es war.
Den letzten Bissen würge ich mit »Hmm … lecker!« herunter.
Sekunden später ist klar, dass dies eine satte Fehlentscheidung war. Denn Volker (inzwischen haben wir unsere Vornamen ausgetauscht und entschieden, uns zu duzen) zögert nicht und packt mir noch drei Zungenstücke auf den Teller.
»Schön, wenn es schmeckt. Ich habe extra etwas mehr gekocht«, schiebt er hinterher.
Bevor ich dazu etwas sagen kann, beiße ich mir beziehungsweise der ehemaligen Kuh auf die Zunge.
»Was hörst du denn so für Musik?«, fragt mich
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