Leg dein Herz in meine Haende
Frau fühlte.
Dies war einer jener Augenblicke. Es hatte nichts mit Selbstmitleid zu tun - in ihrem geschäftigen Alltag blieb ihr einfach keine Zeit für so etwas -, und obwohl sie müde war, war sie trotz allem in der Lage, Gott für das Geschenk zu danken, das er ihr gemacht hatte, als er ihr den kleinen Caleb gegeben hatte. Sie konnte sich ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen, so chaotisch es oft auch sein mochte.
Mit der Absicht, ihre Arbeit wieder aufzunehmen, nahm sie einen Schwamm und begann einen von Tillys kostbaren Porzellantellern zu spülen. Wasser spritzte auf ihre Röcke. Sie schaute an sich herab und nahm zum ersten Mal so richtig wahr, wie alt und verschlissen dieses Kleid schon war. Es passte auch nicht mehr richtig; das Mieder war über ihren Brüsten viel zu eng, aber sie brauchte nur die Knöpfe zu versetzen, wenn und falls sie die Zeit dafür aufbrachte, und dann würde das Kleid fast wieder so gut wie neu sein. Sie würde es jedenfalls bestimmt nicht wegwerfen, wie Tilly ihr geraten hatte, denn das wäre Verschwendung, und heutzutage konnte sie sich nicht mehr leisten, irgendetwas zu verschwenden. Außerdem war das Kleid praktisch und erfüllte seinen Zweck, und ihr gefiel die Farbe. Der einst kräftige lavendelfarbene Ton war vom vielen Tragen und Waschen sehr viel blasser geworden. Tilly hatte gesagt, es sehe wie ein altes, abgelegtes Kleid aus zweiter Hand aus, aber Jessica hatte nur gleichgültig die Schultern gezuckt. Das Kleid war anständig, und das war alles, was ihr wichtig war.
Gott, wie ihre Prioritäten sich geändert hatten! Sie erinnerte sich an ein anderes Kleid, das sie sich vor langer Zeit gewünscht hatte, als solch frivole Kleinigkeiten noch von Bedeutung für sie gewesen waren. Sie hatte das Kleid in einem Schaufenster gesehen und gedacht, dass es die wundervollste Kreation sei, die sie je gesehen hatte. Das Kleid war aus weißem Brokat gewesen, mit einer breiten roten Schärpe. Jessica lächelte, als sie sich erinnerte, wie sie sich geschworen hatte, genügend Geld zu sparen, um sich irgendwann dieses unpraktische Kleidungsstück leisten zu können.
Heute sahen ihre Träume natürlich völlig anders aus. Sie dachte nicht mehr an Verehrer, Bälle oder Teegesellschaften. Sie war damals ein törichtes, unerfahrenes junges Mädchen gewesen. Heute war sie eine Erwachsene mit Pflichten und Verantwortung. Ihr einziger Traum war es jetzt, Caleb die beste Mutter zu sein, die ein Kind haben konnte.
Tilly brachte sie mit der Ankündigung, dass die beiden Marshals gerne mit ihr reden würden, in die Gegenwart zurück.
»Sie erwarten Sie draußen auf der Veranda«, sagte sie.
»Ich komme gleich«, versprach Jessica.
Fünf Minuten später stand sie noch immer am Küchenschrank. Sie wusste, wie unhöflich es war, die Männer warten zu lassen, aber sie war so nervös und ängstlich, dass sie sich einfach nicht dazu überwinden konnte hinauszugehen. Und deshalb zögerte sie das Unvermeidliche so lange wie nur möglich hinaus, indem sie Grace Winthrop, ihrer neuen Freundin, half, das Geschirr zu spülen und abzutrocknen.
Grace war in einer Küche vollkommen fehl am Platz. Jessica glaubte nicht, dass sie schon einmal in einer gewesen war, bevor sie in Tillys Pension eingezogen war, aber was ihr an Erfahrung fehlte, machte sie durch ihren Enthusiasmus wieder wett. Sie war fest entschlossen, zu lernen, wie man eine anständige Mahlzeit kochte, und es gab keine Tätigkeit, die sie für unter ihrer Würde hielt. Gestern hatte sie ihre Handschuhe und ihren Hut abgenommen, eine von Tillys alten Schürzen angezogen und auf Händen und Knien den
Fußboden geschrubbt. Sie hatte doppelt so lange dafür gebraucht, als Jessica gebraucht hätte, aber als sie fertig gewesen war, hatte der Dielenboden einen wunderschönen Glanz gehabt.
Die beiden Frauen waren gute Freundinnen geworden. Jede hing ihren eigenen Gedanken nach, während sie Seite an Seite ihre Arbeit taten.
»Ich habe Angst«, wisperte Jessica. »Ich will nicht mit ihnen reden.«
»Ich habe auch Angst«, gab Grace zu. »Wenn sie dich befragt haben, werden sie bestimmt auch mit mir sprechen wollen. Vielleicht könnte Tilly sie dazu überreden, morgen wiederzukommen.«
Jessica schüttelte den Kopf. »Dann würde ich die ganze Nacht vor Sorge keine Ruhe finden. Ich möchte es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Denn sonst werde ich kein Auge zutun.«
»Hast du über meinen Vorschlag nachgedacht? Mr Nelson will
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