Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
jemand getötet wurde. Anden hat mir vertraut und hätte deswegen heute sterben können – vielleicht ist er sogar gestorben. Vielleicht ist das der Preis, den die Menschen bezahlen müssen, wenn sie mir begegnen.
Das weckt eine andere Frage in mir: Warum ist Tess nicht mit uns gekommen? Ich überlege, Day danach zu fragen, aber seltsamerweise hat er noch kein Wort über sie verloren, seit wir den Tunnel betreten haben. Sie müssen sich gestritten haben, so viel ist sicher. Ich hoffe, es geht ihr gut. Hat sie sich entschlossen, bei den Patrioten zu bleiben?
Schließlich bleibt Day vor einer Wand stehen. Ich laufe ihm fast in die Hacken und im nächsten Moment durchzucken mich Erleichterung und Panik zugleich. Diese Strecke zu laufen sollte eigentlich kein Problem für mich sein, aber ich bin vollkommen erschöpft. Sind wir in einer Sackgasse gelandet? Ist vielleicht ein Teil des Tunnels eingestürzt, sodass wir nun von beiden Seiten eingeschlossen sind?
Doch Day legt seine Hand auf die Mauer und flüstert: »Hier können wir uns ausruhen.« Es sind seine ersten Worte, seit wir hier unten angelangt sind. »In Lamar habe ich in so einem gewohnt.«
Razor hat die Fluchttunnel der Patrioten einmal erwähnt. Day fährt mit der Hand über die Stelle, wo die Tür an die Wand stößt. Nach einer Weile findet er, was er sucht: einen kleinen Hebel, der aus einem dreißig Zentimeter langen Schlitz ragt. Er schiebt ihn von einem Ende des Schlitzes zum anderen. Die Tür öffnet sich mit einem Klicken.
Zuerst ist es, als würden wir ein schwarzes Loch betreten. Ich kann zwar nichts sehen, doch ich lausche genau auf den Widerhall unserer Schritte in dem Raum und komme zu dem Schluss, dass die Decke relativ niedrig ist, wahrscheinlich nur ein kleines Stück höher als der Tunnel selbst, und als ich meine Hand an eine der Wände lege, kann ich ertasten, dass sie gerade ist, nicht gewölbt. Ein rechteckiger Raum.
»Da sind wir«, murmelt Day. Ich höre, wie er irgendetwas drückt und wieder loslässt, und künstliches Licht erfüllt die Kammer. »Hoffen wir, dass sonst niemand hier ist.«
Der Raum ist nicht riesig, trotzdem würden bequem zwanzig oder dreißig Leute darin Platz finden, dicht gedrängt wahrscheinlich sogar hundert. Am anderen Ende führen zwei Türen in dunkle Gänge. An den Wänden hängen Bildschirme, wesentlich klobiger als die in den meisten Republikgebäuden. Ich frage mich, ob die Patrioten sie dort aufgehängt haben oder ob sie Relikte aus der Zeit sind, in der diese Tunnel gebaut wurden.
Während Day mit gezogener Waffe den einen Gang auf der Rückseite des Raums überprüft, nehme ich mir den anderen vor. Ich entdecke zwei kleinere Zimmer mit je fünf Etagenbetten darin und am anderen Ende des Flurs befindet sich eine weitere Tür, hinter der der dunkle, endlose Tunnel weitergeht. Ich möchte wetten, dass auch der Gang, in dem Day sich befindet, in den Tunnel mündet. Während ich von Bett zu Bett schlendere, lasse ich meine Hand über die Wand gleiten, in die irgendwelche Leute ihre Namen oder Initialen geritzt haben. Ins Paradies bitte hier lang. J. D. Edward, lese ich. Und: Der einzige Weg hier raus ist der Tod. Maria Márques .
»Ist die Luft rein?«, fragt Day hinter mir.
Ich nicke. »Positiv. Ich glaube, hier sind wir erst mal sicher.«
Er seufzt und seine Schultern entspannen sich, dann fährt er sich erschöpft mit der Hand durch das zerzauste Haar. Wir haben uns nur ein paar Tage nicht gesehen, aber irgendwie fühlt es sich an, als wäre viel mehr Zeit vergangen. Ich gehe zu ihm. Seine Augen wandern über mein Gesicht, als würde er mich zum ersten Mal wirklich ansehen. Er muss eine Million Fragen haben, stattdessen aber hebt er bloß die Hand und schiebt mir eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. Ich weiß nicht, ob es an meiner Krankheit oder an den in mir aufwallenden Emotionen liegt, dass mir schwindelig wird. Ich hatte schon fast vergessen, welche Wirkung seine Berührungen auf mich haben. Ich will mich in die Reinheit fallen lassen, die Day ausmacht, in seine Aufrichtigkeit eintauchen, seine Wärme, seine Lebendigkeit.
»Hey«, murmelt er.
Ich schlinge meine Arme um ihn und wir halten einander fest. Mit geschlossenen Augen sinke ich gegen ihn und spüre die Wärme seines Atems an meinem Hals. Seine Hände streichen mir durchs Haar, halten mich so fest, als hätte er Angst, mich jemals wieder loszulassen. Dann löst er sich ein Stück von mir, um mir in die Augen zu sehen. Er
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