Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
Wolkenkratzern bin ich schockiert, dass es so etwas hier überhaupt gibt. Da sehen ja selbst die verfallenen Gebäude in der Republik besser aus. Die Fenster sind so klein, dass sie kaum Licht hereinlassen können. Ich spähe in einen der finsteren Hauseingänge.
Dunkelheit, sonst nichts. Das Geräusch tropfenden Wassers und leiser Schritte dringen aus dem Inneren zu uns heraus. Hin und wieder sehe ich einen flackernden Lichtschein vorbeihuschen, so als bewege sich da drinnen jemand mit einer Laterne. Ich sehe zu den oberen Stockwerken hinauf. Die meisten Fensterscheiben sind gesprungen oder eingeschlagen oder fehlen komplett. Ein paar der Öffnungen sind mit Plastikfolie verklebt. Auf den Balkonen stehen alte Töpfe, um das tröpfelnde Wasser aufzufangen, und auf einigen hängt ausgefranste Wäsche zum Trocknen. Es müssen also Menschen dort wohnen. Doch allein der Gedanke lässt mich erschaudern. Ich werfe einen Blick über die Schulter auf die glitzernden Wolkenkratzer einen Block von uns entfernt und sehe dann wieder an dem verkommenen Betonklotz vor uns hoch.
Laute Stimmen am anderen Ende der Straße lassen uns aufhorchen. Ich reiße meinen Blick von dem Gebäude los. Vor einem der Hauseingänge steht eine Frau mittleren Alters in Männerstiefeln und einem schäbigen Mantel vor zwei Männern in schweren Schutzanzügen aus Kunststoff und redet mit schriller Stimme flehend auf sie ein. Beide Männer tragen durchsichtige Visiere vor dem Gesicht und große, breitkrempige Hüte auf dem Kopf.
»Warte«, flüstert Kaede. Dann zieht sie mich in einen der dunklen Hauseingänge. Wir beugen uns so weit wie möglich vor, um besser zu hören, was dort draußen vorgeht. Obwohl sie ein gutes Stück von uns entfernt sind, dringt die Stimme der Frau klar und deutlich durch die stille, eisige Luft zu uns herüber.
»… dieses Jahr nur eine einzige Rate nicht bezahlt«, sagt die Frau gerade. »Ich gehe morgen früh sofort zur Bank, dann kann ich Ihnen alles an Noten geben, was ich habe –«
Einer der Männer unterbricht sie. »DesCon-Richtlinien, Ma’am. Für Kunden, die ihre Zahlungen an die lokale Polizeibehörde nicht geleistet haben, können wir kein Verbrechen zu Protokoll nehmen.«
Die Frau bricht in Tränen aus und ringt so heftig die Hände, dass sie sich fast die Haut von den Knochen reibt. »Aber irgendetwas müssen Sie doch unternehmen können«, sagt sie. »Kann ich es nicht anders begleichen oder gibt es eine andere Polizeibehörde, die mir –«
Der zweite Mann schüttelt den Kopf. »Die Polizeibehörden unterliegen alle den DesCon-Richtlinien. Wer ist Ihr Arbeitgeber?«
»Cloud«, antwortet die Frau hoffnungsvoll. Als könnte die Männer das davon überzeugen, ihr zu helfen.
»Die Cloud-AG sieht es nicht gern, wenn ihre Angestellten sich nach dreiundzwanzig Uhr noch draußen auf der Straße aufhalten.« Er nickt zu dem Gebäude hinauf. »Wenn Sie nicht sofort in Ihre Wohnung zurückkehren, muss DesCon Sie bei Cloud melden und dann könnten Sie Ihren Job verlieren.«
»Aber sie haben alles gestohlen, was ich hatte!« Die Frau bricht wieder in lautes Schluchzen aus. »Meine Tür ist komplett … komplett zertrümmert, ich habe kein Essen mehr, keine Kleidung. Die Männer, die das gemacht haben, wohnen auf derselben Etage wie ich. Bitte, wenn Sie nur kurz mit mir mitkommen würden, dann könnten Sie sie festnehmen … Ich weiß sogar, in welcher Wohnung sie wohnen …«
Doch die Polizisten haben ihr bereits den Rücken zugewandt und gehen davon. Die Frau läuft hinter ihnen her und bettelt um Hilfe, selbst als die beiden sie einfach ignorieren.
»Aber mein Zuhause … wenn Sie nichts tun … wie soll ich denn dann …«, stammelt sie vor sich hin.
Die Männer wiederholen noch einmal ihre Warnung, dass sie sie melden werden.
Als sie weg sind, drehe ich mich zu Kaede um. »Was war das denn?«
»War das nicht offensichtlich?«, erwidert Kaede sarkastisch, als wir zurück auf die Straße treten.
Wir schweigen beide. Schließlich sagt Kaede: »Die Arbeiterklasse wird nun mal überall ausgebeutet, stimmt’s? Ich will damit nur sagen: Die Kolonien mögen in manchen Punkten besser sein als die Republik. Aber ob du es glaubst oder nicht, in anderen Punkten sind sie genau das Gegenteil. Das hier ist nicht die schöne neue Welt, von der du geträumt hast, Day. Die gibt es nicht. Aber dir das vorher zu erklären, hätte keinen Zweck gehabt. Du musstest es selbst sehen, damit du es glaubst.«
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