Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
so auf June losgegangen bin, als sie unten im Bunker versucht hat, mir all das hier zu erklären. Die schrecklichen Sachen, die ich gesagt habe. Ich denke an die seltsame, verstörende Fülle von Werbespots und -anzeigen, die ich hier gesehen habe, die heruntergekommenen Armenviertel, die Enttäuschung, die mich bei dem Gedanken erfüllt, dass die Kolonien nicht das gewaltige Leuchtfeuer sind, als die mein Vater sie sich ausgemalt hat. Sein Traum von glitzernden Wolkenkratzern und einem besseren Leben war nicht mehr als das: ein Traum.
Ich erinnere mich an meinen eigenen Traum, an meine Pläne, sobald das alles hier vorbei sein würde: in die Kolonien fliehen, zusammen mit June, Tess, Eden, ein neues Leben anfangen, die Republik hinter mir lassen. Vielleicht habe ich die ganze Zeit versucht, an den falschen Ort zu fliehen und die falschen Dinge hinter mir zu lassen. Ich denke an meine Auseinandersetzungen mit Republiksoldaten. An den Hass, den ich Anden und allen anderen gegenüber verspürt habe, die das Glück hatten, wohlhabend aufzuwachsen. Dann stelle ich mir das Armenviertel vor, in dem ich groß geworden bin. Ich verachte die Republik, oder etwa nicht? Ich will sehen, wie sie in sich zusammenbricht. Oder nicht? Erst jetzt bin ich in der Lage, eine wichtige Unterscheidung zu machen – ich verachte die Gesetze der Republik, die Republik selbst liebe ich. Ich liebe das Volk . Ich tue das alles nicht bloß für den Elektor, ich tue es für die Menschen.
»Sind die Lautsprecher am Capitol Tower immer noch mit den JumboTrons verkabelt?«, frage ich Kaede.
»Soweit ich weiß, ja«, erwidert sie. »Bei dem Chaos in den letzten achtundvierzig Stunden kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendjemandem die umgeklemmten Leitungen aufgefallen sind.«
Mein Blick wandert hoch zu den Dächern, wo die Kampfflieger aufgereiht stehen. »Bist du wirklich so eine gute Pilotin, wie alle behaupten?«
Kaede zuckt mit den Schultern und grinst mich an. »Besser.«
Langsam nimmt ein Plan in meinem Kopf Form an.
Wieder kommen zwei Soldaten an uns vorbei. Diesmal breitet sich ein mulmiges Gefühl in mir aus. Auch diese Soldaten biegen, genau wie die anderen zuvor, in die Gasse ein, die zum Krankenhaus führt.
Ich vergewissere mich kurz, ob nicht noch mehr Soldaten in Sicht sind, dann laufe ich los, die dunkle Straße hinunter. Nein. Nein. Nicht jetzt.
Kaede ist mir dicht auf den Fersen. »Was ist los?«, zischt sie mir zu. »Du bist gerade so weiß geworden wie ein verdammter Schneesturm.«
Ich habe sie allein und schutzlos an diesem Ort zurückgelassen, von dem ich einst dachte, er wäre unser sicherer Hafen. Ich habe sie den Wölfen zum Fraß vorgeworfen. Wenn ihr jetzt etwas passiert, ist das ganz allein meine Schuld … Ich fange an zu rennen. »Ich glaube, die sind auf dem Weg zum Krankenhaus«, erwidere ich. »Zu June.«
JUNE
Ich schrecke aus meinem Traum hoch, hebe den Kopf und mein Blick sucht die Umgebung ab. Die Illusion von Metias verschwindet. Ich bin in einem Krankenhauszimmer und Day ist nirgends zu sehen. Es ist mitten in der Nacht. Waren wir nicht schon einmal hier? Vor meinem geistigen Auge steigt vage eine Erinnerung hoch, wie Day an meinem Bett sitzt, Day, wie er auf dem Balkon steht und sich von einer Menschenmenge feiern lässt. Jetzt ist er nicht mehr hier. Wo ist er hingegangen?
Es dauert eine weitere Sekunde, so benommen bin ich, bis mir klar wird, was mich geweckt hat. Ich bin nicht allein. Mit mir im Zimmer befinden sich ein halbes Dutzend Soldaten. Eine hochgewachsene Frau mit langen roten Haaren deutet mit ihrer Waffe auf mich.
»Das ist sie?«, fragt sie und hält ihr Gewehr auf mich gerichtet.
Ein älterer männlicher Soldat nickt. »Ja. Hätte nicht gedacht, dass Day eine Republiksoldatin versteckt. Dieses Mädchen ist niemand anderes als June Iparis. Das berühmte Wunderkind der Republik. DesCon wird zufrieden sein. Diese Gefangene ist ’ne ganze Menge Geld wert.« Er schenkt mir ein kaltes Lächeln. »So, Schätzchen, und jetzt erzähl uns doch mal, wo Day hingegangen ist.«
Sechzehn Minuten sind vergangen. Die Soldaten haben mir die Hände mit einem Paar provisorischer Handschellen auf den Rücken gefesselt und mich geknebelt. Drei von ihnen haben sich an der offenen Tür postiert, die anderen bewachen den Balkon. Ich stöhne. Zwar habe ich kein Fieber mehr und meine Gliederschmerzen sind auch weg, aber mir ist noch immer ziemlich schwummrig zumute. (Ja, wo ist Day hingegangen?)
Einer
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