Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
uns auf den Weg zurück zum Krankenhaus. Zwei weitere Koloniesoldaten eilen an uns vorbei, doch keiner von ihnen nimmt auch nur Notiz von uns.
Millionen von Gedanken wirbeln mir durch den Kopf. Mein Vater kann nie auch nur einen Fuß in die Kolonien gesetzt haben – und wenn doch, dann hat er nur einen oberflächlichen Blick darauf geworfen, so wie June und ich, als wir hier angekommen sind. In meinem Hals bildet sich ein Kloß.
»Traust du Anden?«, frage ich Kaede nach einem Moment. »Ist er es wert, gerettet zu werden? Ist die Republik es wert, gerettet zu werden?«
Kaede biegt noch um ein paar weitere Ecken. Schließlich bleibt sie neben einem Laden mit ein paar kleinen Bildschirmen im Schaufenster stehen, von denen jeder ein anderes Kolonie-Programm zeigt. Kaede zieht mich in den Ladeneingang, wo uns die schwarze Nacht verschluckt. Sie deutet auf die Bildschirme hinter der Scheibe. Ich erinnere mich daran, dass June und ich auf unserem Weg in die Stadt an einem ganz ähnlichen Geschäft vorbeigekommen sind.
»Die Kolonien zeigen immer Nachrichten, die sie aus den Funkwellen der Republik abgefangen haben. Sie haben extra einen eigenen Kanal dafür. Diese Nachricht da läuft seit dem gescheiterten Mordanschlag in einer Endlosschleife.«
Mein Blick fällt auf die Schlagzeilen, die über den Bildschirm flimmern. Zuerst starre ich bloß verständnislos darauf, versunken in meine wirren Gedanken über die Patrioten, doch nach einem Moment wird mir klar, dass dies nicht das übliche Frontgeschwafel oder eine Kolonien-Sendung ist, sondern dass es um den Elektor der Republik geht. Instinktiv erfasst mich eine Welle von Abneigung, als ich Anden auf dem Bildschirm sehe. Ich konzentriere mich auf den Bericht, denn ich bin neugierig, wie die aktuellen Entwicklungen von den Kolonien interpretiert werden.
Eine Bildunterschrift erscheint unter der Aufzeichnung. Ungläubig lese ich die Worte: Elektor lässt kleinen Bruder des berühmten Rebellen »Day« frei; morgen will er sich vom Capitol-Tower aus in einer öffentlichen Rede an das Volk wenden.
»Ab dem heutigen Tag«, verkündet der Elektor in dem aufgezeichneten Beitrag, »ist Eden Bataar Wing offiziell vom Militärdienst freigestellt und ebenso, als Anerkennung seiner Leistungen, von seiner Pflicht, den Großen Test zu absolvieren. Auch alle anderen, die wie er an der Front eingesetzt wurden, sind inzwischen auf dem Weg zurück zu ihren Familien.«
Ich reibe mir die Augen und lese den Text noch einmal.
Er ist immer noch da. Der Elektor hat Eden freigelassen.
Plötzlich fühle ich die Kälte der Luft nicht mehr. Ich fühle gar nichts mehr. Meine Beine beginnen zu zittern. Mein Atem geht genauso hastig wie mein hämmernder Herzschlag. Das kann nicht stimmen. Wahrscheinlich verkündet der Elektor das alles nur so groß, weil er mich damit zurück in die Republik locken und in seinen Dienst stellen will. Er versucht mich auszutricksen, um selbst gut dazustehen. Nie im Leben hätte er Eden – und all die anderen, den Jungen aus dem Zug – von sich aus freigelassen. Unmöglich.
Unmöglich? Selbst nach dem, was June mir erzählt hat, selbst nach dem, was ich gerade von Kaede erfahren habe? Nach all dem traue ich Anden immer noch nicht? Was ist denn nur los mit mir?
Während ich weiter auf den Bildschirm starre, weicht das Bild des Elektors einer anderen Szene: Eden wird aus einem Gerichtsgebäude geführt, ohne Handschellen und gekleidet wie ein Kind aus der Oberschicht.
Seine blonden Locken sind ordentlich gebürstet. Seine blinden Augen wandern ziellos über die Straße, aber er lächelt . Ich greife eine Handvoll Schnee, damit die Kälte mich bei Sinnen hält. Wann wurde dieses Video aufgenommen?
Schließlich endet der Bericht und der Bildschirm zeigt einen Beitrag über den misslungenen Mordanschlag, gefolgt von einer Serie von Front-Nachrichten. Die Schlagzeilen unterscheiden sich sehr von denen, die ich aus der Republik kenne: Mordanschlag auf neuen Elektor der Republik vereitelt, Situation spitzt sich immer weiter zu.
Neben dem Text, in einer Ecke des Bildschirms, lese ich eine weitere, kleinere Zeile: Diese Sendung wird Ihnen präsentiert von Evergreen Entertainment. Daneben prangt das nun vertraute kreisförmige Logo.
»Bilde dir deine eigene Meinung über Anden«, murmelt Kaede. Sie wischt sich ein paar Schneeflocken aus den Wimpern.
Ich habe mich geirrt.
Die Erkenntnis wiegt zentnerschwer in meinem Magen, ein Backstein von Schuldgefühlen, weil ich
Weitere Kostenlose Bücher