Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
Schwarz gekleidet, die Hände beschwichtigend erhoben.
Er braucht Days Hilfe.
Hinter uns holen vier der Soldaten stetig auf. Die Flucht saugt auch noch das letzte Tröpfchen Kraft aus meinem Körper. Ich keuche und ringe nach Atem. Day wird aus Rücksicht auf mich bereits langsamer, aber ich weiß, dass wir es auf diese Weise nicht schaffen werden. Ich drücke seine Hand und schüttele den Kopf.
»Du musst allein weiter«, sage ich entschlossen zu ihm.
»Bist du verrückt?« Er presst die Lippen aufeinander und zieht mich weiter mit sich. »Wir sind doch schon so gut wie da.«
»Nein.« Ich schiebe mich dichter an ihn heran, während wir uns weiterdrängeln. »Das hier ist unsere einzige Chance. Wenn ich weiter so langsam bin, wird es keiner von uns schaffen.«
Day zögert, er ist hin- und hergerissen. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir voneinander getrennt werden – wahrscheinlich fragt er sich gerade, ob er mich je wiedersehen wird, wenn er mich jetzt loslässt. Aber wir haben keine Zeit, uns darüber Gedanken zu machen.
»Ich kann zwar nicht mehr rennen, aber ich kann immer noch in der Menge untertauchen. Vertrau mir.«
Mit einem Mal zieht er mich stürmisch in seine Arme und küsst mich hart auf die Lippen. Sie sind glühend heiß. Ich erwidere seinen Kuss und lasse meine Hände über seinen Rücken gleiten. »Tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt habe«, flüstert er. »Versteck dich, bring dich in Sicherheit. Wir sehen uns bald.« Dann drückt er ein letztes Mal meine Hand und verschwindet.
Ich atme einen Schwall eiskalte Luft ein. Los jetzt, June. Du hast keine Zeit zu verlieren.
Ich bleibe stehen und kauere mich blitzschnell nieder, als die Soldaten bei mir anlangen. Der erste übersieht mich komplett. Er rennt auf mich zu, um im nächsten Moment über meinen ausgestreckten Fuß zu stolpern und auf dem Rücken zu landen. Ich riskiere keinen zweiten Blick, sondern stürze mich direkt wieder in die wütende Menge und bahne mir mit eingezogenem Kopf einen Weg zwischen den Menschen hindurch, bis ich die Soldaten abgehängt habe. Ich kann kaum fassen, wie viele Leute sich hier versammelt haben. Überall toben Kämpfe zwischen Zivilisten und der Straßenpolizei. Und hoch über uns senden die JumboTrons Live-Bilder von Andens Gesicht. Seine Miene hinter dem Sicherheitsglas ist ernst, flehend.
Sechs Minuten vergehen. Ich bin nur noch ein paar Hundert Meter vom Capitol Tower entfernt, als die Menschen ringsum plötzlich verstummen. Ihre Blicke sind nicht mehr auf Anden gerichtet.
»Da oben!«, schreit jemand.
Sie deuten auf einen Jungen mit leuchtend hellem Haar, der auf einem Balkon am anderen Ende desselben Stockwerks steht, wo sich auch Anden befindet. Im Sicherheitsglas des Balkons spiegeln sich die Lichter der Straße und von hier unten wirkt es, als würde der Junge selbst strahlen.
Ich schnappe nach Luft und bleibe stehen. Es ist Day.
DAY
Als ich den Capitol Tower erreiche, bin ich in Schweiß gebadet. Mein ganzer Körper brennt vor Schmerzen. Ich biege um eine Ecke des Gebäudes, sodass ich vom Vorplatz aus nicht mehr zu sehen bin, und blicke mich in der Menge um, während sich die Menschen grob an mir vorbeidrängeln. Ringsum leuchten überall helle JumboTrons und jeder zeigt exakt dasselbe Bild: den jungen Elektor, der das Volk vergeblich anfleht, sich nach Hause und in Sicherheit zu begeben, sich zu zerstreuen, bevor die Lage außer Kontrolle gerät. Er versucht, die Leute zu beschwichtigen, indem er immer wieder verspricht, dass er die Republik verändern will, dass er den Großen Test abschaffen und berufliche Chancengleichheit einführen will. Aber es ist offensichtlich, dass sein politisches Geschwafel die Menschen nicht erreicht. Und obwohl Anden älter und erfahrener ist, als June und ich es sind, scheint ihm diese wesentliche Tatsache zu entgehen.
Die Leute glauben ihm nicht, genauso wenig wie sie an ihn glauben.
Ich möchte wetten, dass sich die Senatoren in diesem Moment die Hände reiben. Und Razor auch. Ob Anden überhaupt ahnt, dass Razor hinter dieser ganzen Verschwörung steckt? Ich drehe mich zum Capitol, kneife die Augen zusammen, springe hoch und klettere bis zur zweiten Etage. Ich stelle mir vor, dass June direkt hinter mir ist und mich anfeuert.
Die Lautsprecher an der Gebäudewand scheinen genau so manipuliert worden zu sein, wie Kaede es mir in Lamar erklärt hat. Ich untersuche die Kabel. Ja. So habe ich es auch damals in der kleinen Gasse gemacht, als ich
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