Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
June zum ersten Mal begegnet bin und sie über das Lautsprechersystem um Seuchenmedikamente gebeten habe. Mit dem Unterschied, dass ich dieses Mal nicht nur in einer nächtlichen Gasse zu hören sein werde, sondern in der gesamten Hauptstadt. Im ganzen Land.
Der eisige Wind brennt mir auf den Wangen und pfeift mir in Böen um die Ohren, sodass ich mich konzentrieren muss, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich könnte jeden Moment tot sein. Es gibt keinerlei Garantie, dass die Soldaten auf den umliegenden Dächern mich nicht erschießen werden, bevor ich mich hinter dem Sicherheitsglas eines der Balkone vorerst in Sicherheit bringen kann, Hunderte von Metern über dem Rest der Welt. Vielleicht erkennen sie mich aber auch und warten erst mal ab.
Ich klettere weiter bis zur zehnten Etage, wo sich der Balkon des Elektors befindet. Dort halte ich kurz an und spähe nach unten. Ich bin hoch genug – sobald ich um die Ecke des Gebäudes biege, wird mich jeder sehen können. Die meisten Menschen befinden sich auf dem Vorplatz, wo sie, die Fäuste wütend in die Luft gereckt, zum Elektor hinaufsehen. Selbst von hier aus kann ich erkennen, dass viele von ihnen eine dunkelrot gefärbte Strähne im Haar tragen. Wie es aussieht, sind die Möglichkeiten der Regierung, diese Art von politischem Statement zu verbieten, begrenzt, wenn es einfach jeder macht.
Am Rand des Vorplatzes prügeln Straßenpolizisten und Soldaten gnadenlos mit Schlagstöcken um sich und drängen die Aufständischen mit transparenten Schilden zurück. Ich bin erstaunt, dass keine Schüsse zu hören sind. Meine Hände beginnen vor Wut zu zittern. Nichts ist so Furcht einflößend wie eine Hundertschaft von Republiksoldaten in einheitlicher Kampfmontur, die sich in dunklen, unüberwindbaren Reihen einer Menge unbewaffneter Demonstranten entgegenstellen.
Ich presse mich gegen die Wand und atme ein paarmal tief die kalte Nachtluft ein, um mich zu beruhigen. Um mich auf June und ihren Bruder und den Elektor zu konzentrieren und auf den Gedanken, dass hinter einigen dieser nichtssagenden Republikmasken gute Menschen mit Eltern, Geschwistern und Kindern stecken. Ich hoffe, dass Anden der Grund für die ausbleibenden Schüsse ist, dass er seinen Soldaten befohlen hat, nicht in die Menge zu schießen. Ich muss es einfach glauben. Sonst werde ich diese Menschen nie von dem überzeugen können, was ich ihnen zu sagen habe.
»Keine Angst«, flüstere ich vor mich hin, die Augen fest geschlossen. »Die kannst du dir jetzt nicht leisten.«
Dann löse ich mich aus den Schatten, eile über den Mauervorsprung um die Ecke des Gebäudes und springe hinter die Brüstung des erstbesten Balkons. Ich sehe auf den Platz hinunter. Die Sicherheitsscheibe endet ein Stück über meinem Kopf, doch ich spüre noch immer, wie der Wind an mir zerrt. Ich nehme meine Mütze ab und werfe sie über die Brüstung. Sie schwebt nach unten und der Wind trägt sie ein Stück zur Seite. Mein Haar fällt mir auf die Schultern. Ich beuge mich vor, verbiege die Verdrahtung eines der Lautsprecher und halte ihn mir wie ein Megafon vor den Mund. Dann warte ich einen Moment.
Zuerst bemerkt mich niemand. Doch schon bald dreht jemand sein Gesicht in meine Richtung, der vermutlich durch mein leuchtendes Haar auf mich aufmerksam geworden ist, dann folgt noch ein Gesicht und noch eins. Eine kleine Gruppe. Schließlich deuten mehrere Dutzend Menschen zu mir hinauf. Das Geschrei und die wütenden Sprechchöre werden leiser. Ich frage mich, ob June mich wohl sehen kann. Die Soldaten auf den anderen Dächern haben ihre Gewehre auf mich gerichtet, aber sie schießen nicht. Sie sind mit mir in diesem seltsamen, heiklen Schwebezustand gefangen. Alles in mir schreit danach zu fliehen. Das zu tun, was ich immer tue, womit ich die letzten fünf Jahre meines Lebens verbracht habe. Türmen, verschwinden, in die Dunkelheit flüchten.
Dieses Mal aber bleibe ich, wo ich bin. Ich bin es leid zu fliehen.
Die Menge verstummt, während immer mehr Gesichter zu mir hinaufblicken. Zuerst höre ich nur vereinzelte ungläubige Ausrufe. Sogar Lachen. Das kann nicht Day sein , bilde ich mir ein, sie flüstern zu hören. Das ist irgendein Hochstapler. Doch je länger ich hier stehe, desto lauter werden sie. Nach einer Weile sind alle Gesichter mir zugewandt. Mein Blick wandert zu Anden, selbst er sieht zu mir herüber. Ich halte die Luft an und hoffe, dass er nicht beschließt, mich erschießen zu lassen. Ist er wirklich
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