Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
auf meiner Seite?
Dann beginnen die Menschen, meinen Namen zu rufen. »Day! Day! Day!« Ich traue kaum meinen Ohren. Die Sprechchöre gelten mir und die Stimmen der Leute hallen von jedem Häuserblock, in jeder Straße wider. Ich stehe da wie erstarrt, umklammere mein improvisiertes Megafon und kann den Blick nicht von der Menschenmenge unter mir losreißen. Dann hebe ich den Lautsprecher an den Mund.
»Bürger der Republik!«, rufe ich. »Könnt ihr mich hören?« Meine Worte schallen aus jedem Lautsprecher auf dem Platz – und wahrscheinlich auch aus jedem einzelnen Lautsprecher im Land. Die Vorstellung verschlägt mir die Sprache.
Die Leute auf dem Platz fangen an zu jubeln, dass der Boden erbebt. Die Soldaten müssen einen hastigen Befehl von jemandem im Kongress erhalten haben, denn ich sehe, wie einige von ihnen ihre Waffen hochreißen. Eine einzelne Kugel zischt durch die Luft und schlägt Funken an der Scheibe vor meinem Balkon, als sie davon abprallt. Ich bewege mich nicht.
Der Elektor gibt den Wachen, die bei ihm stehen, einen kurzen Wink, woraufhin sie sich sofort die Hand aufs Ohr pressen und in ihre Mikrofone sprechen. Vielleicht hat er ihnen befohlen, mir nichts zu tun. Ich zwinge mich, es zu glauben.
»Das würde ich lieber sein lassen!«, rufe ich in die Richtung, aus der die Kugel gekommen ist. Ganz ruhig bleiben . Das Jubeln der Leute auf dem Platz schwillt zu einem ohrenbetäubenden Lärm an. »Ihr da im Kongress wollt doch wohl keinen Aufstand riskieren, oder?«
»Day! Day! Day!«
»Heute, lieber Kongress, setze ich euch ein Ultimatum.« Mein Blick wandert zu den JumboTrons. »Ihr habt eine Reihe von Patrioten für ein Verbrechen verhaftet, für das ihr selbst verantwortlich seid. Lasst sie frei. Und zwar alle. Wenn das nicht geschieht, werde ich das Volk um Unterstützung bitten und dann habt ihr eure Revolution. Aber wahrscheinlich nicht die Art, auf die ihr gehofft hattet.« Die Zivilisten schreien ihre Zustimmung. Die Sprechchöre steigern sich zu einem fieberhaften Gellen.
»Bürger der Republik.« Sie jubeln mir zu, als ich weiterrede. »Hört mir zu. Heute setze ich euch allen ein Ultimatum.«
Die Sprechchöre gehen weiter, bis den Leuten auffällt, dass ich innehalte, und sie leiser werden.
Ich hebe den Lautsprecher dichter vor den Mund. »Mein Name ist Day.« Meine Stimme erfüllt die Luft. »Ich habe gegen dieselben Ungerechtigkeiten gekämpft, gegen die ihr hier protestiert. Ich habe dieselben Dinge durchlitten wie ihr. Genau wie ihr musste ich mitansehen, wie meine Freunde und meine Familie durch die Hand von Republiksoldaten starben.« Ich blinzele die Erinnerungen weg, die mich zu überwältigen drohen. Mach weiter . »Ich musste Hunger, Gewalt und Demütigungen ertragen. Ich wurde erniedrigt, gefoltert und unterdrückt. Ich habe mit euch in den Armenvierteln gelebt. Ich habe mein Leben für euch riskiert. Und ihr habt euer Leben für mich riskiert. Wir alle haben unser Leben für unser Land riskiert – nicht für das Land, in dem wir leben, sondern für ein Land, in dem wir eines Tages zu leben hoffen. Jeder von euch, jeder Einzelne, ist ein Held.«
Begeistertes Gejohle schlägt mir entgegen, das nicht abbricht, selbst als die Soldaten unten auf dem Platz anfangen, vereinzelte Demonstranten niederzustoßen und zu verhaften, während andere erfolglos versuchen, das manipulierte Lautsprechersystem abzuschalten. Der Kongress bekommt Angst, wird mir klar. Sie haben Angst vor mir, genau wie immer. Also mache ich weiter: Ich erzähle den Menschen, was mit meiner Mutter und meinen Brüdern passiert ist, und mit June. Ich erzähle ihnen von den Patrioten und vom Plan des Senats, Anden ermorden zu lassen. Ich hoffe, dass Razor irgendwo zuhört und vor Wut schäumt. Während ich rede, gerät die Aufmerksamkeit der Menschen keine Sekunde ins Wanken.
»Vertraut ihr mir?«, rufe ich.
Die Menge antwortet mit vereinter Stimme. Das Meer von Menschen und ihr ohrenbetäubender Lärm sind überwältigend. Wenn meine Mutter noch am Leben wäre, wenn Dad und John noch am Leben wären, würden sie dann auch dort unten stehen und zu mir hinauflächeln? Ich atme tief und zittrig ein. Bring zu Ende, wofür du gekommen bist . Ich konzentriere mich auf die Leute und auf den jungen Elektor. Dann nehme ich all meine Kraft zusammen und spreche die Worte, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie eines Tages sagen würde.
»Bürger der Republik, überlegt, wer euer wahrer Feind ist. Euer
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