Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
Feind ist das Leben, das euch die Republik diktiert, es sind die Gesetze und Traditionen, die uns kleinhalten, die Regierung, die uns dahin gebracht hat, wo wir heute sind. Der verstorbene Elektor. Der Kongress.« Dann hebe ich den Arm und deute auf Anden. »Aber der neue Elektor ist … Nicht. Euer. Feind! « Die Menge wird mucksmäuschenstill. Alle Blicke sind fest auf mich gerichtet. »Glaubt ihr etwa, der Kongress will den Großen Test abschaffen oder euren Familien helfen? Das ist eine Lüge.« Ich deute auf Anden, während ich das sage, und zwinge mich, zum ersten Mal, ihm wirklich zu vertrauen. »Dieser Elektor ist jung und entschlossen und er ist nicht sein Vater . Er will für euch kämpfen, genau wie ich für euch gekämpft habe, aber dafür müsst ihr ihm eine Chance geben. Und wenn ihr euch alle hinter ihn stellt und ihn stark macht, dann wird er euch stark machen. Er wird unser Leben verändern, Stück für Stück. Er kann ein Land schaffen, wie wir es uns alle erträumen. Ich stehe hier oben für euch alle – und für ihn. Vertraut ihr mir?« Ich frage noch einmal lauter: »Bürger der Republik, vertraut ihr mir?«
Stille. Dann vereinzelte Sprechchöre. Und schließlich immer mehr. Die Menschen sehen zu mir hinauf und recken mir ihre Fäuste entgegen, ihr Jubel hält an, die Zeit für die Wende ist gekommen.
»Dann erhebt eure Stimmen für euren Elektor, so wie ich es getan habe, und er wird seine Stimme für euch erheben!«
Der Lärm ist ohrenbetäubend und übertönt alles andere. Der junge Elektor hält seinen Blick auf mich gerichtet und ich begreife, endgültig, dass June recht hat.
Ich will nicht, dass die Republik zerbricht. Ich will, dass sie sich verändert.
JUNE
Zwei Tage sind vergangen. Genauer gesagt, zweiundfünfzig Stunden und acht Minuten sind vergangen, seit Day auf den Capitol Tower geklettert ist und seine Unterstützung für unseren Elektor erklärt hat. Noch immer sehe ich ihn vor mir, wenn ich die Augen schließe, sein Haar, das in der Dunkelheit leuchtet wie eine Fackel. Noch immer höre ich seine Worte, die klar und deutlich durch die Stadt und das ganze Land schallen. In meinen Träumen fühle ich die Hitze seines letzten Kusses auf meinen Lippen, sehe die Angst und das Feuer in seinen Augen. Jeder Mensch in der Republik hat ihn an diesem Abend gehört. Er hat Anden seine Macht zurückgegeben und Anden hat das Land zurückgewonnen, auf einen Schlag.
Das hier ist mein zweiter Tag in einem Krankenhaus am Stadtrand von Denver. Der zweite Nachmittag ohne Day an meiner Seite. In seinem Zimmer, ein paar Türen weiter, wird er, genau wie ich, unzähligen Untersuchungen unterzogen, die seine Gesundheit sicherstellen und gleichzeitig die Möglichkeit ausschließen sollen, dass ihm in den Kolonien irgendwelche Sender eingepflanzt wurden. Jetzt steht jeden Moment das Wiedersehen mit seinem Bruder an.
Gerade ist mein Arzt hereingekommen, um meinen Genesungsprozess zu kontrollieren – doch Privatsphäre habe ich dabei nicht. Wenn man die Zimmerdecke genauer betrachtet, kann man dort in jeder Ecke Überwachungskameras sehen, die das Geschehen live übertragen. Die Republik wollte den Menschen nicht den kleinsten Anlass zur Befürchtung geben, dass Day und ich nicht gut versorgt werden.
Ein Bildschirm an der Wand zeigt Days Zimmer. Allein diesem Bildschirm ist es zu verdanken, dass ich mich bereit erklärt habe, so lange von Day getrennt zu sein. Ich wünschte, ich könnte mit ihm reden. Sobald sie endlich aufhören, mich mit Röntgenuntersuchungen und allen möglichen Sensoren zu malträtieren, werde ich nach einem Mikrofon verlangen.
»Guten Morgen, Ms Iparis«, begrüßt mich der Arzt, während ein paar Krankenschwestern mir sechs verschiedene Sensoren auf die Haut drücken.
Ich erwidere murmelnd seinen Gruß, doch mein Blick bleibt auf den Bildschirm gerichtet, wo Day gerade von einem anderen Arzt untersucht wird. Er hat trotzig die Arme verschränkt und seine Miene ist skeptisch. Sein Blick wandert immer wieder zu einem Punkt an der Wand, den ich nicht sehen kann. Ich frage mich, ob er mich ebenfalls über einen Bildschirm beobachtet.
Mein Arzt begreift, was mich ablenkt, und beantwortet ergeben meine unausgesprochene Frage. »Sie dürfen bald zu ihm, Ms Iparis. In Ordnung? Ich verspreche es Ihnen. Was jetzt kommt, kennen Sie ja schon. Schließen Sie bitte die Augen und holen Sie tief Luft.«
Ich schlucke meinen Frust hinunter und gehorche. Lichter flackern hinter meinen
Weitere Kostenlose Bücher