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Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)

Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)

Titel: Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Lu
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nicht die Wurzel des Problems. Die gehorchen ja bloß den Befehlen ihrer Vorgesetzten. Aber der Elektor? Ich weiß nicht. Den einen Menschen loszuwerden, der die Verantwortung für dieses ganze verfluchte System trägt, scheint mir ein ziemlich kleiner Preis dafür zu sein, eine Revolution in Gang zu setzen. Meinst du nicht?«
    Ich kann Day für seine Einstellung nur bewundern. Was er sagt, erscheint absolut logisch. Trotzdem frage ich mich, ob er vor ein paar Wochen, bevor das alles mit seiner Familie geschehen ist, genauso argumentiert hätte. Ich traue mich nicht zu erwähnen, dass ich Anden bei meiner Ehrenfeier kennengelernt habe. Es ist schwerer, sich mit dem Gedanken anzufreunden, einen Menschen zu töten, wenn man ihn persönlich gekannt – und vielleicht sogar bewundert – hat. »Tja, wie ich schon sagte. Wir haben keine Wahl.«
    Days Lippen werden schmal. Er weiß, dass ich ihm etwas verschweige. »Es muss hart für dich sein, den Elektor zu verraten.« Seine Hände hängen schlaff an seinen Seiten.
    Ich halte den Kopf gesenkt und ziehe ihm die Stiefel aus.
    Während ich sie beiseitestelle, beginnt Day, sich aus seiner Jacke zu winden. Ich muss an unsere erste Begegnung in den Straßen von Lake denken. Damals hat er jeden Abend seine Jacke ausgezogen und sie Tess als Kopfkissen gegeben. Weiter habe ich Day sich nie ausziehen sehen. Jetzt aber knöpft er auch sein Hemd auf und entblößt den Rest seines Halses und ein kleines Stückchen seiner Brust. An einer Schnur um seinen Nacken hängt die amerikanische Vierteldollarmünze, auf beiden Seiten von einer glatten Metallschicht bedeckt. In der Dunkelheit des Bahnwaggons hat er mir erzählt, wie sein Vater das Geldstück von der Front mitgebracht hat.
    Nachdem er den letzten Knopf geöffnet hat, zögert er kurz und schließt die Augen. Ich sehe den Schmerz in seinem Gesicht und bei dem Anblick wird mir das Herz schwer. Der meistgesuchte Verbrecher der Republik ist plötzlich nur noch ein Junge, der hier vor mir sitzt, so verwundbar, und mir all seine Schwächen darbietet.
    Ich richte mich auf und greife nach seinem Hemd. Meine Hände streifen die Haut seiner Schultern. Ich gebe mir Mühe, ruhig zu atmen, klar und vernünftig zu denken. Doch als ich ihm aus dem Hemd helfe und mein Blick auf seine nackten Arme und seine Brust fällt, beginnt mein Sinn für Logik an den Rändern zu verschwimmen. Day ist unter seinen Kleidern schlank und durchtrainiert, seine Haut überraschend glatt bis auf die eine oder andere Narbe (vier blasse Linien an Brust und Taille, eine weitere, die diagonal von seinem linken Schlüsselbein bis hinunter zur rechten Hüfte verläuft, und eine überkrustete Wunde an einem Arm). Er sieht mir fest in die Augen. Es ist schwer, Day jemandem zu beschreiben, der ihn noch nie gesehen hat – exotisch, einzigartig, überwältigend. Wir sind uns jetzt nah, so nah, dass ich die kleine kreisförmige Unregelmäßigkeit in dem Meer von Blau seines linken Auges erkennen kann. Ich spüre seinen flachen Atem heiß im Gesicht. Hitze steigt mir in die Wangen, aber ich will mich nicht abwenden.
    »Wir stehen das gemeinsam durch, richtig?«, flüstert er. »Du und ich? Du willst doch hier sein, oder?« Aus seinen Fragen spricht sein schlechtes Gewissen.
    »Ja«, antworte ich. »Ich habe mich selbst dafür entschieden.«
     Day zieht mich so nah an sich, dass unsere Nasen einander berühren. »Ich liebe dich.«
    Mein Herz macht einen jähen Satz, als ich das Verlangen in seiner Stimme höre. Im selben Moment aber braust der vernünftige Teil meines Gehirns auf: Das ist ja wohl eher unwahrscheinlich. Vor einem Monat wusste er doch noch nicht mal, dass es mich überhaupt gibt.
    Und so platze ich heraus: »Nein, tust du nicht. Noch nicht.«
    Day zieht die Augenbrauen zusammen, als hätte ich ihn verletzt. »Ich meine es ernst«, sagt er an meinen Lippen.
    Der Schmerz in seiner Stimme macht mich hilflos. Trotzdem. Das sind nur die unbedachten Worte eines Jungen im Überschwang des Augenblicks. Ich versuche mich dazu zu zwingen, sie zu erwidern, doch die Worte gefrieren mir auf der Zunge. Wie kann er sich so sicher sein? Ich kann all diese neuen Gefühle in meinem Inneren noch gar nicht deuten – bin ich nun hier, weil ich ihn liebe oder weil ich ihm etwas schuldig bin?
    Day wartet meine Antwort nicht ab. Eine seiner Hände wandert über meine Taille und bleibt auf meinem Rücken liegen, zieht mich näher, bis ich auf seinem gesunden Bein sitze. Mir entweicht

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