Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
Patrioten anschließen sollen.
Tess, die der Ärztin assistieren wird, huscht geschäftig im Raum hin und her, reicht ihr Instrumente und sieht ihr, wenn sie gerade nichts anderes zu tun hat, genauestens bei der Arbeit zu. Außerdem geht sie June erfolgreich aus dem Weg. Ich sehe ihr an, dass sie furchtbar nervös ist, doch sie sagt kein Wort. Während des Abendessens, als sie sich zu mir aufs Sofa gesellt hat, haben wir ganz entspannt geplaudert – aber irgendetwas hat sich zwischen uns verändert. Ich kann es nicht genau benennen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, Tess ist in mich verknallt. Aber dieser Gedanke ist so absurd, dass ich ihn schnell beiseiteschiebe. Tess, die so etwas wie meine Schwester ist, das kleine Waisenmädchen aus dem Nima-Sektor?
Nur dass sie mittlerweile alles andere als ein kleines Waisenmädchen ist. Inzwischen kann ich in ihrem Gesicht deutliche Anzeichen dafür erkennen, dass sie erwachsen wird: weniger Babyspeck, ausgeprägtere Wangenknochen, Augen, die nicht mehr so kugelrund wirken, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich frage mich, warum diese Veränderungen mir zuvor nie aufgefallen sind. Offenbar musste ich dafür erst ein paar Wochen von ihr getrennt sein. Oh Mann, sieht aus, als hätte ich eine Beobachtungsgabe wie ein Backstein.
»Atmen«, sagt June neben mir und holt tief Luft, als wollte sie mir zeigen, wie das geht.
Ich höre auf, mir den Kopf über Tess zu zerbrechen, und merke, dass ich tatsächlich die Luft angehalten habe. »Hast du eine Ahnung, wie lange das dauern wird?«, frage ich June. Sie tätschelt mir beruhigend die Hand, als sie die Anspannung in meiner Stimme hört, und ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Ohne mich wäre sie längst auf dem Weg in die Kolonien.
»Ein paar Stunden.« June hält inne, als Razor die Ärztin beiseitenimmt. Geld wechselt den Besitzer und sie besiegeln das Geschäft per Handschlag. Tess hilft der Ärztin, ihren Mundschutz anzulegen und beim Anziehen der Handschuhe, nachdem die Frau sich ausgiebig die Hände geschrubbt hat. Dann blickt sie mich an und hebt aufmunternd den Daumen. June dreht sich wieder zu mir um.
»Warum hast du mir nicht erzählt, dass du den Elektor kennengelernt hast?«, flüstere ich. »Du hast die ganze Zeit über ihn geredet wie über einen völlig Fremden.«
»Das ist er ja auch«, entgegnet June. Einen Moment lang schweigt sie, als müsse sie noch einmal über ihre Worte nachdenken. »Ich habe es einfach nicht für besonders wichtig gehalten – ich kenne ihn nicht und ich habe auch keine Meinung zu ihm.«
Ich denke zurück an unseren Kuss im Badezimmer. Dann rufe ich mir das Porträt des neuen Elektors vor Augen und stelle mir eine ältere June neben ihm als die neue Senatsvorsitzende vor. Seite an Seite mit dem mächtigsten Mann der ganzen Republik. Was bin ich schon dagegen – ein Junge von der Straße mit gerade mal zwei Noten in der Hosentasche, der allen Ernstes meint, er könnte dieses Mädchen an sich binden, nur weil er ein paar Wochen mit ihm verbracht hat? Habe ich etwa vergessen, dass June aus der Oberschicht stammt, dass sie auf Dinnerpartys andauernd solchen Leuten wie dem zukünftigen Elektor begegnet sein muss, während ich in den Straßen von Lake die Mülltonnen nach Essen durchwühlt habe? Und da komme ich heute zum ersten Mal auf die Idee, sie mir an der Seite eines wohlhabenderen Mannes vorzustellen? Auf einmal erscheint es mir absolut erbärmlich, dass ich ihr meine Liebe gestanden habe, als könnte ich sie so dazu bringen, mich ebenfalls zu lieben, wie irgendein Mädchen von der Straße. Und erwidert hat sie es sowieso nicht.
Warum mache ich mir überhaupt Gedanken darüber? Wie kann es bloß so verdammt wehtun? Habe ich nicht Wichtigeres im Kopf?
Die Ärztin kommt zu mir. June drückt meine Hand; ich will sie nicht loslassen. Sie mag aus einer anderen Welt stammen, aber die hat sie für mich aufgegeben. Manchmal nehme ich das alles wie selbstverständlich hin und dann, wenn sie sich so bereitwillig für mich in Gefahr bringt, frage ich mich wieder, wie ich jemals an ihr zweifeln konnte. Sie könnte mich so leicht fallenlassen. Aber sie tut es nicht. »Ich habe mich selbst dafür entschieden«, hat sie gesagt.
»Danke«, flüstere ich ihr zu. Mehr bekomme ich nicht heraus.
June blickt mich prüfend an und gibt mir einen sanften Kuss auf den Mund. »Bevor du was merkst, ist es auch schon vorbei, du wirst sehen, und dann kannst du wieder genauso schnell
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