Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
Gebäude und Mauern hochklettern wie früher.« Sie bleibt noch einen Moment bei mir, schließlich aber steht sie auf und nickt der Ärztin und Tess zu. Dann ist sie verschwunden.
Ich schließe die Augen und hole zittrig Luft, als die Ärztin sich über mich beugt. Aus diesem Winkel kann ich Tess überhaupt nicht sehen. Na ja, was immer mir jetzt bevorsteht, es kann wohl kaum so schlimm sein wie ein Schuss ins Bein. Oder?
Die Ärztin drückt mir einen feuchten Lappen auf den Mund. Dann falle ich in ein tiefes, finsteres Loch.
Funken. Erinnerungen an einen fernen Ort.
Ich sitze mit John an unserem kleinen Wohnzimmertisch im flackernden Licht dreier Kerzen. Ich bin neun. Er ist vierzehn. Der Tisch wackelt wie eh und je – eins seiner Beine ist morsch und wir verlängern seine Lebensdauer alle paar Monate mithilfe von ein paar Stücken Pappe, die wir darunternageln. John sitzt vor einem dicken, aufgeschlagenen Buch. Seine Augenbrauen sind konzentriert zusammengezogen. Er liest eine weitere Zeile vor, verhaspelt sich bei zwei Wörtern und macht geduldig mit der nächsten weiter.
»Du siehst ziemlich müde aus«, sage ich. »Vielleicht solltest du lieber ins Bett gehen. Mom flippt aus, wenn sie sieht, dass du noch auf bist.«
»Diese Seite schaffen wir noch«, murmelt John, der mir nur mit einem Ohr zugehört hat. »Es sei denn, du willst ins Bett.«
Hastig setze ich mich kerzengerade auf. »Ich bin nicht müde«, beteuere ich.
Dann beugen wir uns wieder über die Seite und John liest die nächste Zeile vor. »In Denver«, sagt er langsam, »hat es der … ehrwürdige Elektor … nach der … Fertigstellung des großen … Nordwalls …«
»Offiziell«, helfe ich ihm auf die Sprünge.
»Offiziell … zu einem Verbrechen …« John hält ein paar Sekunden inne, dann schüttelt er seufzend den Kopf.
»Wider«, sage ich.
John blickt stirnrunzelnd auf die Seite. »Bist du sicher? Das kann doch nicht das richtige Wort sein. Na schön. ›… wider den Staat erklärt, die …‹« Er stockt erneut, dann lehnt er sich in seinem Stuhl zurück und reibt sich die Augen. »Du hast recht, Danny«, flüstert er. »Vielleicht sollte ich einfach ins Bett gehen.«
»Was ist denn los?«
»Die Buchstaben verschwimmen ständig vor meinen Augen.« John seufzt abermals und deutet dann mit dem Finger auf die Seite. »Davon wird mir ganz schwindelig.«
»Komm schon. Noch eine Zeile, dann machen wir Schluss.« Ich zeige auf die Stelle, an der er aufgehört hat, und dann auf das Wort, mit dem er Schwierigkeiten hatte. »Hauptstadt«, sage ich, »zu einem Verbrechen wider den Staat erklärt, die Hauptstadt ohne vorherige Erlaubnis durch das Militär zu betreten.«
John lächelt leicht, als ich den Satz ohne zu stocken vorlese. »Du wirst keine Probleme beim Großen Test haben«, sagt er, als ich fertig bin. »Und Eden auch nicht. Wenn ich irgendwie da durchkomme, dann schafft ihr beiden mit Sicherheit Bestnoten. Du bist ein ganz schön kluger Kopf, Brüderchen.«
Ich wische sein Lob weg. »Ich freue mich nicht gerade auf die Highschool.«
»Das solltest du aber. Wenigstens werden sie dich dort annehmen. Und wenn du gut genug bist, schickt die Republik dich vielleicht sogar aufs College und anschließend zum Militär. Ist das nichts, worüber man sich freuen kann?«
Plötzlich klopft es an der Tür. Ich zucke zusammen.
John schiebt mich hinter sich. »Wer ist da?«, ruft er.
Das Klopfen wird lauter, bis ich mir schließlich die Ohren zuhalte, um es nicht mehr hören zu müssen.
Mom kommt ins Wohnzimmer, den schläfrigen Eden auf dem Arm, und will wissen, was los ist. John macht einen Schritt nach vorn, um die Tür zu öffnen, doch bevor er sie erreicht, fliegt sie schon auf und eine Einheit bewaffneter Streifenpolizisten stürzt herein. Ganz vorne steht ein Mädchen mit einem langen dunklen Pferdeschwanz und einem Schimmer von Gold in ihren schwarzen Augen. Ihr Name ist June.
»Sie sind verhaftet«, erklärt sie, »wegen Mordes an unserem ehrwürdigen Elektor.« Sie hebt ihre Waffe und erschießt John. Dann erschießt sie Mom.
Ich schreie aus voller Kehle, so laut, dass meine Stimmbänder reißen. Dann wird alles schwarz.
Ein rasender Schmerz durchzuckt mich. Jetzt bin ich zehn. Ich bin wieder im Versuchslabor des Los Angeles Central Hospital eingesperrt, zusammen mit anderen – wie vielen, weiß ich nicht. Wir alle sind mit Gurten auf Bahren festgeschnallt und blinzeln ins helle Licht der Leuchtstoffröhren. Ärzte
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