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Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)

Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)

Titel: Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Lu
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Wirklichkeit zurück. »Wir bringen Sie jetzt nach Colburn Hall«, sagt er vom Beifahrersitz des Jeeps aus. »Das ist ein Bankettsaal im Capital Plaza, den die Senatoren hin und wieder für Feierlichkeiten nutzen. Der Elektor isst dort oft zu Abend.«
    Colburn? Nach allem, was ich gehört habe, ist das ein sehr exklusiver Treffpunkt, zumal ich doch ursprünglich direkt ins Gefängnis von Denver gebracht werden sollte. Auch für Thomas muss diese Planänderung unerwartet gekommen sein. Ich glaube nicht, dass er schon einmal in der Hauptstadt gewesen ist, aber er ist ein gewissenhafter Soldat und starrt natürlich nicht staunend wie ein Tourist aus dem Fenster. Ich bin unglaublich gespannt auf das Capital Plaza – darauf, ob es wirklich so riesig ist, wie ich es mir immer vorgestellt habe.
    »Dort wird meine Einheit Sie an die Männer von Commander DeSoto übergeben.« Razors Einheit, füge ich Gedanken hinzu. »Der neue Elektor wird Sie im Fürstensaal empfangen. Ich schlage vor, Sie benehmen sich entsprechend.«
    »Danke für den Tipp«, entgegne ich und schenke Thomas im Rückspiegel ein kaltes Lächeln. »Ich werde ihm meinen schönsten Hofknicks präsentieren.« In Wirklichkeit aber werde ich langsam nervös. Seit meiner Geburt ist mir eingeschärft worden, den Elektor zu ehren, den Menschen, für den ich noch bis vor Kurzem, ohne eine Sekunde zu zögern, mein Leben gegeben hätte. Selbst jetzt, nach allem, was ich über die Republik erfahren habe, spüre ich, wie sich diese tief verwurzelte Ergebenheit wieder an die Oberfläche zu kämpfen versucht und mich umgibt wie eine vertraute Decke, in deren Geborgenheit ich mich hüllen will. Seltsam. Als ich vom Tod des Elektors gehört oder Anden bei seiner ersten Live-Ansprache gesehen habe, hatte ich dieses Gefühl noch nicht. Es ist völlig ausgeblieben, bis jetzt, da ich nur noch wenige Stunden davon entfernt bin, ihn persönlich zu treffen.
    Ich bin nicht mehr das gefeierte Wunderkind, das ich bei unserer ersten Begegnung war. Was wird er über mich denken?
    COLBURN HALL, FÜRSTENSAAL
    Jedes Geräusch hallt von den Wänden wider. Ich sitze allein am Ende eines langen Tischs (knapp vier Meter dunkles Kirschholz, handgeschnitzte Beine, goldene Verzierungen, vermutlich mit einem millimeterfeinen Pinsel aufgetragen), den Rücken gerade an das rote Samtpolster meines Stuhls gelehnt. Weit weg an der gegenüberliegenden Wand knistert unter einem riesigen Porträt des neuen Elektors ein Feuer im Kamin und der Raum wird von acht goldenen Wandlampen erhellt. Überall sind Hauptstadtsoldaten – zweiundfünfzig von ihnen stehen Schulter an Schulter an den Wänden aufgereiht, während sechs rechts und links von mir Aufstellung genommen haben. Draußen ist es noch immer bitterkalt, hier drinnen aber ist es so warm, dass das dünne Kleid und die zierlichen Lederstiefel, die die Bediensteten mir zum Anziehen gegeben haben, völlig ausreichen. Meine Haare sind gewaschen, geföhnt und gebürstet und fallen mir glatt und glänzend über den Rücken. Stränge aus winzigen Zuchtperlen (jede einzelne gut und gerne zweitausend Noten wert) sind hineingeflochten. Zuerst betaste ich sie bewundernd, dann aber fallen mir die armen Menschen am Bahnhof in ihren fadenscheinigen Kleidern wieder ein und ich ziehe hastig, angewidert von mir selbst, die Hände aus meinem Haar. Jemand hat mir transparenten Puder auf die Augenlider gestäubt, der nun im Feuerschein glitzern muss. Mein Kleid, cremeweiß mit sturmgrauen Akzenten, fließt in mehreren Lagen aus Chiffon bis zu meinen Füßen hinunter. Es ist zweifellos sehr kostbar. Fünfzigtausend Noten? Sechzig?
    Das Einzige, was nicht so recht ins Bild passen will, sind die schweren Metallfesseln, mit denen meine Hand- und Fußgelenke an den Stuhl gekettet sind.
    Eine halbe Stunde vergeht, bevor ein weiterer Soldat (der den typischen schwarz-roten Mantel der Hauptstadttruppen trägt) den Saal betritt. Er hält die Tür hinter sich auf, nimmt Haltung an und hebt das Kinn. »Unser ehrwürdiger Elektor hat das Gebäude betreten«, verkündet er. »Bitte erheben Sie sich.« Er versucht dabei niemanden Bestimmtes anzusehen, dabei bin ich die Einzige, die sitzt.
    Ich stemme mich von meinem Stuhl hoch und stehe mit klirrenden Fesseln auf.
    Fünf Minuten vergehen. Gerade als ich mich zu fragen beginne, ob überhaupt noch jemand kommt, tritt ein junger Mann durch die Tür und nickt den Soldaten am Eingang zu. Die Wachen salutieren zackig. Ich kann mit meinen

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