Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
gefunden, besonders nachdem sich gezeigt hatte, dass wir dadurch im Krieg mehr Schlachten gewannen.«
Meine Finger in meinem Schoß sind so fest ineinander verknotet, dass sie langsam taub werden. »Und, finden Sie, dass die Taktik Ihres Vaters funktioniert hat?«, frage ich leise.
Anden senkt den Kopf. Er sucht nach den richtigen Worten. »Was soll ich dazu sagen? Funktioniert hat sie schon. Unsere Armee ist durch den Test tatsächlich stärker geworden. Aber ist es deswegen richtig, was er getan hat? Darüber denke ich schon seit geraumer Zeit nach.«
Ich beiße mir auf die Lippe. Plötzlich wird mir klar, was für ein Kampf in Andens Innerem toben muss: auf der einen Seite seine Liebe zu seinem Vater und auf der anderen seine eigene Vision der Republik. » Richtig ist ein relativer Begriff, nicht wahr?«
Anden nickt. »Eigentlich spielt es gar keine Rolle, wie das alles angefangen hat oder ob es jemals richtig war. Das eigentliche Problem ist, dass sich über die Jahre die Gesetze weiterentwickelt und verschoben haben. Die Dinge haben sich immer mehr geändert. Am Anfang mussten noch keine Kinder den Großen Test machen und die Reichen wurden dabei auch nicht bevorzugt. Die Seuchen …« Er zögert und wagt sich dann doch nicht an das Thema. »Die Bevölkerung ist wütend, aber der Senat weigert sich, etwas an der derzeitigen Situation zu ändern, aus Angst, dadurch wieder die Kontrolle zu verlieren. Für die Regierung ist der Test eine Möglichkeit, die Republik noch stärker zu machen.«
Tiefe Traurigkeit breitet sich auf Andens Gesicht aus. Ich kann spüren, wie sehr er sich für das Erbe schämt, das er antreten musste.
»Das tut mir leid«, sage ich leise. Plötzlich habe ich den Drang, seine Hand zu berühren, ihn zu trösten.
Andens Lippen verziehen sich zu einem zögerlichen Lächeln. Deutlicher denn je sehe ich das Verlangen in seinen Augen, seine gefährliche Schwäche, wie sehr er sich zu mir hingezogen fühlt. Wenn ich jemals Zweifel daran gehabt habe, dann weiß ich es spätestens jetzt mit Sicherheit. Schnell wende ich mich ab, in der Hoffnung, dass der Anblick einer Schneelandschaft die Hitze in meinen Wangen abkühlt.
»Sagen Sie, June«, murmelt er dann. »Was würden Sie an meiner Stelle tun? Was wäre Ihre erste Amtshandlung als Elektorin dieser Republik?«
Ich antworte, ohne zu zögern. »Das Volk für mich zu gewinnen. Der Senat hätte keine Macht mehr über Sie, wenn die Menschen mit einer Revolution drohen könnten. Sie brauchen das Volk hinter sich und das Volk braucht einen Anführer.«
Anden lehnt sich in seinem Sitz zurück; das warme Licht des Abteils fällt auf seinen Mantel und umhüllt ihn mit einem goldenen Schimmer. Etwas in unserem Gespräch hat ihn auf eine Idee gebracht; vielleicht ist es ein Gedanke, den er schon seit Langem gehegt hat. »Sie wären eine gute Senatorin, June. Sie wären eine große Unterstützung für Ihren Elektor – und das Volk liebt Sie.«
Meine Gedanken beginnen zu rasen. Ich könnte tatsächlich in der Republik bleiben und Anden helfen. Und, wenn ich alt genug bin, Senatorin werden. Mein Leben zurückbekommen. Day und die Patrioten hinter mir lassen. Ich weiß, wie selbstsüchtig diese Überlegungen sind, aber ich kann nicht anders. Warum darf ich nicht auch einmal selbstsüchtig sein?, frage ich mich bitter. Ich könnte Anden einfach hier und jetzt vom Plan der Patrioten erzählen – ohne mich darum zu scheren, ob die Patrioten es herausfinden und was sie Day deswegen antun – und in mein sicheres Leben als wohlhabende, hochrangige Regierungsmitarbeiterin zurückkehren. Ich könnte meinem toten Bruder Ehre erweisen, indem ich das Land ganz langsam von innen heraus verändere. Oder?
Wie schrecklich. Ich schiebe diese dunkle Fantasie von mir. Die Vorstellung, Day dermaßen im Stich zu lassen, ihn so zu hintergehen, ihn nie wieder in die Arme nehmen zu können, ihn nie mehr wiederzusehen, lässt mich vor Qual die Zähne zusammenbeißen. Ich schließe einen Moment die Augen und denke an seine sanften, schwieligen Hände, seine wilde Entschlossenheit. Nein, so etwas könnte ich niemals tun. Das weiß ich mit so überwältigender Sicherheit, dass sie mir beinahe Angst macht. Nach all den Opfern, die wir beide bringen mussten, haben wir uns doch sicher ein gemeinsames Leben verdient – in welcher Form auch immer –, wenn das alles hier vorbei ist? In die Kolonien fliehen oder die Republik neu aufbauen? Anden will Days Hilfe; wir könnten alle
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