Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
dass die Seuchenstreife vor dem Haus meiner Mutter auftauchte. Selbst dieser Abend erscheint mir nicht so schlimm wie das hier heute. Meine Familie war damals noch am Leben und zwischen Tess und mir alles in Ordnung. Ich atme ein paarmal tief ein und lasse die Luft langsam wieder heraus. In weniger als fünfzehn Minuten wird der Jeep des Elektors diese Straße hinunterkommen. Meine Finger fahren über die Gehäuse der Granaten an meinem Gürtel.
Eine Minute vergeht, dann eine weitere.
Drei Minuten. Vier Minuten. Fünf Minuten. Jede schleppt sich langsamer vorüber als die vorherige. Mein Atem beschleunigt sich. Was wird June tun? Hat sie recht? Was, wenn nicht? Ich glaube, ich bin bereit, den Elektor zu ermorden – immerhin habe ich die letzten Tage damit zugebracht, mich davon zu überzeugen, bis ich es sogar kaum noch erwarten konnte. Aber bin ich auch bereit, ihn zu verschonen, einen Menschen, an den ich nicht mal denken kann, ohne wütend zu werden? Bin ich bereit, sein Blut an den Händen kleben zu haben? Was weiß June, das ich nicht weiß? Was weiß sie, das es in ihren Augen richtig erscheinen lässt, ihn zu verschonen?
Acht Minuten.
Dann, plötzlich, meldet sich Pascao wieder. »Bleib auf Empfang. Wir haben eine Verzögerung.«
Ich versteife mich. »Was für eine?«
Eine lange Pause. »Irgendwas stimmt nicht mit June«, antwortet Pascao in gedämpftem Flüsterton. »Sie ist zusammengebrochen, als sie das Gerichtsgebäude verlassen haben. Aber flipp nicht gleich aus – Razor sagt, es geht ihr gut. Die Uhren werden zwei Minuten zurückgestellt. Verstanden?«
Ich richte mich ein Stückchen aus meiner hockenden Position auf. Sie hat etwas vor . Das weiß ich sofort. Irgendetwas kitzelt mich ganz am Rand meines Bewusstseins, ein siebter Sinn, der mich warnt, dass sich das, was ich mit dem Elektor vorhatte, durch Junes nächsten Zug grundlegend verändern könnte. »Warum ist sie zusammengebrochen?«, frage ich.
»Weiß ich nicht. Die Späher sagen, ihr sei schwindelig geworden oder so.«
»Also ist sie noch am Ball?«
»Klingt, als würden wir den Plan trotzdem durchziehen.«
Den Plan trotzdem durchziehen? Haben sie Junes Sabotageakt vereitelt? Ich stehe auf und vertrete mir kurz die Beine, dann hocke ich mich wieder hin. Hier stimmt doch was nicht. Sitzt June mit dem Elektor im Jeep – möglicherweise gegen ihren Willen? Werden die Patrioten darauf kommen, dass sie versucht hat, ihren Plan zum Scheitern zu bringen? Ich werde das ungute Gefühl einfach nicht los, sosehr ich auch versuche, es zu verdrängen. Irgendetwas ist verdammt faul an dieser Sache.
Zwei quälende Minuten vergehen. Vor Nervosität habe ich ein großes Stück Lack vom Griff meines Messers geknibbelt. Mein Daumen ist voller schwarzer Krümel.
Ein paar Straßen weiter explodiert die erste Granate. Der Boden bebt, das Gebäude unter mir erzittert und eine Staubwolke senkt sich auf mich herab. Der Jeep des Elektors muss aufgetaucht sein.
Ich verlasse meinen Aussichtsposten auf dem Fensterbrett und mache mich durchs Treppenhaus auf den Weg aufs Dach, geduckt, damit man mich von unten nicht sieht. Von hier aus habe ich einen besseren Blick auf die Stelle, an der nach der ersten Explosion Rauch aufsteigt, und höre die alarmierten Rufe der Soldaten. Sie sind etwa drei Blocks entfernt. Als mehrere Soldaten die Straße hinuntergerannt kommen, lege ich mich flach auf die gesprungenen Dachplatten. Sie schreien irgendetwas Unverständliches – ich möchte wetten, dass sie Verstärkung rufen. Zu spät. Bis sie dort ankommt, wird der Jeep des Elektors längst um die Ecke gebogen sein, wie wir es geplant haben.
Vorsichtig löse ich eine der Granaten von meinem Gürtel, rufe mir noch einmal ins Gedächtnis, wie sie funktioniert, rufe mir noch einmal ins Gedächtnis, dass ich, wenn ich sie pünktlich werfe, entgegen Junes Warnung handle. »Die Granaten haben einen Aufschlagzünder«, hat Pascao mir erklärt. »Die gehen hoch, sobald sie den Boden berühren. Halte den Bügel fest und zieh den Splint. Dann wirf sie und mach dich auf den Knall gefasst.«
In der Ferne lässt eine weitere Explosion die Straßen erbeben, dann steigt die dazugehörige Rauchwolke auf. Für diese war Baxter verantwortlich – der sich jetzt da drüben in irgendeiner Gasse versteckt.
Noch zwei Blocks. Der Elektor kommt näher.
Eine dritte Explosion. Diese klingt schon viel näher – der Jeep kann nur noch einen Block entfernt sein. Ich suche Halt, als der Boden
Weitere Kostenlose Bücher