Legend - Fallender Himmel
erzählen. Vor ein paar Jahren haben wir einen jungen Rebellen geschnappt, der ziemlich viel mit dir gemeinsam hatte. Dreist und aufbrausend, ein kleiner, dummer Dickschädel und genauso lästig wie du. Er hat auch versucht, vor seinem Hinrichtungstermin zu flüchten. Und weißt du, was mit ihm passiert ist?« Sie streckt die Hand aus, legt sie auf meine Stirn und drückt meinen Kopf zurück, bis er an die Wand stößt. »Der Junge ist bis zum Treppenhaus gekommen, dort haben wir ihn wieder eingefangen. Und als sein Hinrichtungstag kam, erteilte das Gericht mir die Erlaubnis, ihn persönlich zu töten, anstatt ihn vor das Erschießungskommando zu stellen.« Ihre Hand presst sich fester gegen meine Stirn. »Ich glaube, das Erschießungskommando wäre ihm lieber gewesen.«
»Sie werden eines Tages einen schlimmeren Tod sterben als er«, zische ich.
Commander Jameson stößt ein Lachen aus. »Rotzfrech bis zum Ende, was?« Sie lässt meinen Kopf los und hebt mit einem Finger mein Kinn an. »Wie amüsant du bist, mein hübscher Junge.«
Meine Augen werden schmal. Bevor sie etwas dagegen tun kann, reiße ich mich aus ihrem Griff los und versenke meine Zähne tief in ihre Hand. Sie schreit auf. Ich beiße zu, so fest ich kann, bis ich Blut schmecke. Commander Jameson schleudert mich brutal gegen die Wand. Der Aufprall raubt mir fast das Bewusstsein. Sie umklammert ihre Hand und vollführt eine Art gequälten Tanz, während ich blinzele und gegen die Ohnmacht ankämpfe. Ein paar Soldaten versuchen, ihr zu helfen, aber sie stößt sie von sich.
»Ich freue mich auf deinen Hinrichtungstag, Day«, knurrt sie mich an. Aus ihrer Hand trieft das Blut. »Ich zähle jetzt schon die Minuten!« Damit stürmt sie davon und knallt die Zellentür hinter sich zu.
Ich schließe die Augen und vergrabe den Kopf in meinen Armen, sodass niemand mein Gesicht sieht. Ich habe noch immer Blut auf der Zunge - der metallische Geschmack lässt mich erschaudern. Bisher hatte ich nie den Mut, an meinen Hinrichtungstag zu denken. Wie ist es wohl, vor einem Erschießungskommando zu stehen und keinen Ausweg mehr zu haben? Meine Gedanken schweifen ab und bleiben schließlich an dem hängen, was June mir zugeflüstert hat: »Allein schaffst du es nicht. Dafür brauchst du meine Hilfe.«
Sie muss etwas herausgefunden haben - wer der wahre Mörder ihres Bruders ist oder irgendeine andere Wahrheit über die Republik. Es gibt keinen Grund mehr, warum sie mich jetzt noch täuschen sollte ... Ich habe nichts mehr zu verlieren und sie nichts zu gewinnen. Ich lasse die Erkenntnis sacken.
Eine Agentin der Republik wird mir zur Flucht verhelfen. Sie wird mir helfen, meine Brüder zu befreien.
Ich bin offenbar dabei, meinen Verstand zu verlieren.
JUNE
An der Drake habe ich gelernt, dass man sich, wenn man nachts unentdeckt bleiben will, am besten über die Dächer fortbewegt. In dieser Höhe bin ich praktisch unsichtbar - die Leute unter mir achten nur auf die Straße - und außerdem kann ich da oben am besten überblicken, wohin ich unterwegs bin.
Heute Nacht ist mein Ziel die Gegend zwischen Lake und Alta, wo ich in den Skiz-Kampf mit Kaede geraten bin. Ich muss sie finden, bevor ich morgen früh zurück in die Batalla-Zentrale muss, um mit Commander Jameson die Details von Days fehlgeschlagenem Fluchtversuch durchzusprechen. Kaede ist die beste Komplizin, die ich für Days Hinrichtungstag bekommen kann.
Kurz nach Mitternacht ziehe ich mich von Kopf bis Fuß schwarz an. Schwarze Kletterstiefel. Dünne schwarze Fliegerjacke. Messer im Gürtel. Auf den Rücken schnalle ich mir einen kleinen schwarzen Rucksack. Schusswaffen nehme ich keine mit - ich will nicht, dass man meine Spur bis in die Seuchenviertel verfolgen kann.
Ich mache mich auf den Weg nach oben, bis ich auf dem Dach meines Hochhauses stehe und mir der Wind um die Ohren pfeift. Ich kann die Feuchtigkeit in der Luft riechen. Auf einigen Weideterrassen stehen selbst zu dieser Zeit noch grasende Tiere. Bei ihrem Anblick frage ich mich, ob ich wohl schon die ganze Zeit über einem unterirdischen Fleischproduktionsbetrieb wohne.
Von hier oben habe ich einen Blick über die gesamte Innenstadt von Los Angeles sowie ein paar angrenzende Sektoren und den dünnen Streifen Festland, der den riesigen See vom Pazifischen Ozean trennt. Es ist leicht zu erkennen, wo die Grenze zwischen den reichen und den ärmsten Sektoren verläuft - wo das gleichmäßige elektrische Licht flackernden Laternen, kleinen
Weitere Kostenlose Bücher