Legend - Fallender Himmel
Lagerfeuern und Dampfkraftwerken weicht.
Mithilfe eines Seilwurfgeräts spanne ich eine dünne Leine zwischen zwei Gebäuden. So gleite ich lautlos von Hochhaus zu Hochhaus, bis ich mich ein gutes Stück außerhalb der Sektoren Batalla und Ruby befinde. Hier wird das Vorwärtskommen etwas kniffliger. Die Gebäude sind niedriger und die Dächer marode, einige sehen aus, als würden sie einstürzen, sobald man nur einen Fuß daraufsetzt. Ich wähle meine Ziele mit Bedacht. Manchmal muss ich mit dem Seilwurfgerät einen Punkt unterhalb der Dachkante anvisieren und mich, sobald ich auf der anderen Seite angekommen bin, die letzten Meter aus eigener Kraft hinaufhieven. Als ich schließlich den Randbezirk von Lake erreiche, rinnt mir der Schweiß über Nacken und Rücken.
Das Seeufer ist nur ein paar Häuserblocks entfernt. Als ich mich genauer in dem Sektor umsehe, fällt mir auf, dass beinahe jeder Block von rotem Absperrband umgeben ist und an jeder Straßenecke Soldaten von der Seuchenstreife mit Gasmasken und schwarzen Umhängen postiert sind. Reihen um Reihen von Haustüren sind mit dem roten X markiert. Ein Trupp Soldaten marschiert von Haus zu Haus, wie bei einer ganz normalen Routinekontrolle. Aber irgendetwas sagt mir, dass sie jetzt die Gegenmittel verteilen, genau wie Metias es beschrieben hat, und die Seuche in ein paar Wochen wie durch Zauberei verschwunden sein wird. Ich achte darauf, nicht in die Richtung zu sehen, in der das Haus von Days Familie steht - oder, womöglich, gestanden hat. So als könnte dort noch immer die Leiche seiner Mutter auf der Straße liegen.
Ich brauche weitere zehn Minuten, um zu der Stelle etwas außerhalb des Sektors zu gelangen, wo ich Day zum ersten Mal begegnet bin. Hier sind die Dächer zu baufällig für mein Seilwurfgerät. Vorsichtig klettere ich auf die Straße hinunter - ich bin zwar gut trainiert, aber ich bin nicht Day - und folge den dunklen Gassen Richtung Seeufer. Feuchter Sand knirscht unter meinen Sohlen.
Ich schleiche durch Hinterhöfe und meide Straßenlaternen, Polizeistreifen und die allgegenwärtigen Menschenmassen auf den Straßen. Day hat mir erzählt, dass er Kaede in irgendeiner Bar an der Grenze zwischen Alta und Winter kennengelernt hat. Im Gehen nehme ich meine Umgebung in Augenschein. Von den Dächern aus meine ich bereits etwa ein Dutzend Bars gesehen zu haben, die in mein Bild von einem solchen Laden und zu Days Beschreibung passen würden - hier unten schließe ich neun davon wieder aus.
Ein paarmal bleibe ich stehen, um mich kurz zu sammeln. Wenn ich hier erwischt werde und jemand herausfindet, was ich vorhabe, werden sie mich höchstwahrscheinlich töten. Ohne weitere Fragen. Bei dem Gedanken beginnt mein Herz zu hämmern.
Dann aber fallen mir die Worte meines Bruders wieder ein. Sofort fangen meine Augen an zu brennen und ich muss die Zähne aufeinanderbeißen. Es ist zu spät, um umzukehren.
Ich streife durch ein paar der Bars, doch ich habe kein Glück. Sie sehen alle so gleich aus - schummriges Licht, Rauch und Chaos, hin und wieder ein Skiz-Kampf in einer dunklen Ecke. Ich nehme jeden einzelnen Kämpfer in Augenschein, aber ich habe meine Lektion gelernt und bleibe in sicherem Abstand zum Ring. Ich frage jeden Barkeeper, ob er ein Mädchen mit Rankentattoo kennt. Keine Spur von Kaede.
Etwa eine Stunde vergeht.
Dann finde ich sie. (Das heißt, eigentlich findet sie mich.) Ich komme noch nicht mal dazu, die Bar zu betreten.
Ich biege um die Ecke und will mich gerade auf den Weg zum Seiteneingang machen, als ich spüre, wie irgendetwas knapp an meiner Schulter vorbeizischt. Ein Dolch. Mit einem Satz bringe ich mich in Sicherheit - mein Blick fliegt nach oben. Jemand springt aus dem zweiten Stock zu mir herunter und wirft sich auf mich, sodass wir beide in die Dunkelheit kugeln. Ich krache mit dem Rücken gegen die Wand. Instinktiv ziehe ich ein Messer aus meinem Gürtel, bevor ich meinen Angreifer erkenne.
»Du bist es«, sage ich.
Das Mädchen vor mir funkelt mich wütend an. Ihr Rankentattoo schimmert im Licht der Straßenlaternen und ihre Augen sind mit dicker schwarzer Schminke umrahmt. »Okay«, erwidert Kaede. »Ich weiß, dass du mich suchst. Du schleichst jetzt seit einer Stunde durch die Bars von Alta und fragst nach mir, also scheint’s dir ziemlich ernst zu sein. Was willst du? ’ne Revanche oder so was?«
Ich will gerade antworten, als ich in den Schatten hinter Kaede eine weitere Bewegung wahrnehme. Ich erstarre.
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