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Legend - Fallender Himmel

Titel: Legend - Fallender Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Lu
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Tunnel ist vermutlich nicht breiter und höher als ein halber Meter. Jedes Mal, wenn ich mich vorwärtsziehe, muss ich die Augen schließen, mich zum Weiteratmen zwingen und mir versichern, dass die Metallwände nicht aufeinander zurücken. Es kann nicht mehr weit sein - keiner dieser Schächte führt in den dritten Stock. Ich muss es bloß bis in eins der Treppenhäuser des Krankenhauses schaffen, weg von den Soldaten im Erdgeschoss. Ich schiebe mich weiter. Ich denke an Edens Gesicht, an die Medizin, die er und John und meine Mutter brauchen werden, und an das merkwürdige rote X mit dem Strich mittendurch.
    Ein paar Minuten später endet der Schacht. Ich spähe durch das Lüftungsgitter und erkenne in den schwachen Lichtstreifen Teile einer gewundenen Treppe. Das Treppenhaus ist makellos weiß, beinahe schön, und - vor allem - leer. Ich zähle im Kopf bis drei, dann hole ich mit beiden Armen aus, so weit es geht, und versetze der Schachtabdeckung einen kräftigen Stoß. Das Gitter fliegt heraus. Endlich kann ich das Treppenhaus, einen zylinderförmigen Raum mit hohen Gipswänden und winzigen Fenstern, in Gänze sehen. In seiner Mitte windet sich eine riesige Wendeltreppe nach oben.
    Ab jetzt ist nicht mehr Vorsicht, sondern Schnelligkeit geboten. Los geht’s. Ich quetsche mich aus dem Schacht und stürme die Treppe hinauf. Auf halbem Weg halte ich mich am Geländer fest und stemme mich mit einem Satz auf die Treppenstufen über mir. Die Überwachungskameras müssen mich genau im Visier haben. Jeden Moment wird der Alarm losgehen. Zweiter Stock, dritter Stock. Die Zeit wird knapp. Während ich mich der Etagentür des dritten Stocks nähere, reiße ich den Ausweis des Soldaten von meiner Kette und bleibe gerade lange genug stehen, um ihn über den Scanner vor der Tür zu ziehen. Die Überwachungskameras haben nicht schnell genug Alarm ausgelöst, um die Treppenhaustüren zu verriegeln. Ein Klicken ertönt - und ich bin drin. Ich stoße die Tür auf.
    Ich stehe in einem riesigen Raum - Krankenbahre reiht sich an Krankenbahre und unter Metalldeckeln brodeln Chemikalien. Ärzte, Schwestern und Soldaten sehen mich mit erschrockenen Gesichtern an.
    Ich schnappe mir die erste Person, die ich sehe - einen jungen Arzt, der in der Nähe der Tür steht. Bevor auch nur einer der Soldaten seine Waffe auf uns richten kann, ziehe ich eins meiner Messer und halte es dem Mann an die Kehle. Die übrigen Ärzte und die Schwestern bleiben wie angewurzelt stehen. Ein paar von ihnen schreien.
    »Wenn Sie schießen, treffen Sie ihn, nicht mich!«, rufe ich den Soldaten durch das Tuch vor meinem Mund zu. Ihre Waffen sind jetzt auf mich gerichtet. Der Arzt zittert in meinem Griff.
    Ich drücke ihm das Messer fester an den Hals, achte jedoch darauf, seine Haut nicht zu verletzen. »Ich tue Ihnen nichts«, flüstere ich ihm ins Ohr. »Sagen Sie mir, wo die Seuchenmedikamente sind.«
    Der Arzt gibt ein ersticktes Wimmern von sich und ich spüre, wie er zu schwitzen beginnt. Er deutet in Richtung der Kühlschränke. Die Soldaten zögern noch immer, aber einer von ihnen macht einen Schritt nach vorn.
    »Lassen Sie den Doktor los!«, ruft er. »Nehmen Sie die Hände hoch.« Fast hätte ich gelacht. Der Soldat muss ein ganz frischer Rekrut sein.
    Zusammen mit dem Arzt durchquere ich den Raum und bleibe vor den Kühlschränken stehen. »Zeigen Sie sie mir.« Der Arzt hebt eine zittrige Hand und öffnet die Kühlschranktür. Ein Schwall eisiger Luft schlägt uns entgegen. Ich frage mich, ob der Arzt wohl merkt, wie schnell mein Herz schlägt.
    »Da«, flüstert er.
    Ich lasse die Soldaten gerade lange genug aus den Augen, um zu sehen, dass die Hälfte der Flaschen im obersten Fach mit dem durchgestrichenen X gekennzeichnet ist: T. Filoviridae Virus-Mutationen. Die andere Hälfte trägt die Aufschrift 11,30 Gegenmittel. Doch die Flaschen sind alle leer. Es ist nichts mehr übrig. Ich fluche gedämpft. Mein Blick huscht zu den anderen Fächern - dort stehen bloß allgemeine Seuchenhemmer und Schmerzmittel. Ich fluche abermals. Jetzt ist es zu spät, um einen Rückzieher zu machen.
    »Ich lasse Sie jetzt los«, flüstere ich dem Arzt zu. »Ducken Sie sich.« Ich lockere meinen Griff und versetze ihm einen kräftigen Schubs, sodass er auf die Knie fällt.
    Die Soldaten eröffnen sofort das Feuer. Aber darauf bin ich vorbereitet - ich verstecke mich hinter der geöffneten Kühlschranktür und höre, wie die Kugeln auf der anderen Seite abprallen. Ich

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