Legend - Fallender Himmel
immer an der Tür. Meiner Mutter und John scheint es gut zu gehen, oder zumindest gut genug, um auf den Beinen zu sein und herumzulaufen. Aber Eden ... Diesmal hat er im Bett gelegen, mit einem feuchten Lappen auf der Stirn. Selbst aus der Entfernung konnte ich sehen, wie fahl seine Haut war und dass er ziemlich viel Gewicht verloren hat. Als ich mich später mit John hinter unserem Haus traf, erzählte er, dass Eden nichts mehr gegessen hat, seit ich das letzte Mal dort gewesen bin. Ich schärfte John ein, so wenig Zeit wie möglich im selben Zimmer wie Eden zu verbringen. Wer weiß schon, wie sich diese wahnsinnige Seuche überträgt? John hat mich gebeten, mit meinen irren Aktionen aufzuhören, damit ich nicht eines Tages dabei umkomme. Darüber musste ich lachen. John würde es in meiner Gegenwart nie aussprechen, aber ich weiß, dass ich die einzige Chance bin, die Eden noch hat.
Gut möglich, dass die Seuche seinem Leben ein Ende setzt, bevor er den Großen Test machen kann.
Vielleicht wäre das aber auch ein Segen. Eden würde an seinem zehnten Geburtstag nicht vor unserer Haustür stehen und auf den Bus warten müssen, der ihn zum Stadion bringt. Er würde nicht zusammen mit Dutzenden anderer Kinder die Stufen des Stadions hoch in die Arena gehen und dort Runden laufen müssen, während die Prüfer seine Atemtechnik und Haltung begutachten, oder seitenweise stupide Multiple-Choice-Fragen beantworten oder ein Prüfungsgespräch vor einer Riege ungeduldiger Regierungsmitarbeiter überstehen. Er würde anschließend nicht in einer von zwei Gruppen auf das Ergebnis warten müssen, ohne zu wissen, welche Gruppe nach Hause geschickt würde und welche in die »Arbeitslager«.
Ich weiß es nicht. Wenn es hart auf hart käme, wäre die Seuche wahrscheinlich die gnädigere Art, aus diesem Leben zu scheiden.
»Eden war schon immer anfällig für Krankheiten, weißt du«, sage ich nach einer Weile. Ich beiße ein großes Stück von dem Brot und dem Käse ab. »Als Baby ist er mal beinahe gestorben. Da hatte er sich irgendeine Art von Pocken eingefangen, er hatte eine Woche lang Fieber und Hautausschlag und hat ununterbrochen geweint. Die Soldaten waren kurz davor, unsere Tür zu markieren. Aber es war eindeutig nicht die Seuche und außer Eden war keiner von uns krank.« Ich schüttele den Kopf. »John und ich waren nie krank.«
Diesmal lächelt Tess nicht. »Armer Eden.« Nach einer Pause fügt sie hinzu: »Ich war auch ziemlich krank, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Kannst du dich noch erinnern, wie heruntergekommen ich ausgesehen habe?«
Plötzlich packt mich das schlechte Gewissen, weil ich in den letzten Tagen so oft über meine Probleme geredet habe. Ich habe wenigstens eine Familie, um die ich mir Sorgen machen kann. Ich lege einen Arm um Tess’ Schulter. »Ja, du hast wirklich ziemlich furchtbar ausgesehen.«
Tess lacht, doch sie hält ihren Blick auf die Lichter der Innenstadt gerichtet. Sie lehnt den Kopf an meine Schulter. Genau wie sie es damals getan hat, in der allerersten Woche, nachdem ich sie in einer Gasse im Nima-Sektor aufgegabelt hatte.
Ich weiß bis heute nicht, warum ich an jenem Nachmittag stehen geblieben bin, um mit ihr zu reden. Vielleicht hatte mich die Hitze weichherzig gemacht oder vielleicht hatte ich einfach bloß gute Laune, weil ich kurz vorher ein Restaurant gefunden hatte, das eine ganze Tagesration alte Sandwiches in den Müll geworfen hatte.
»Hey!«, rief ich ihr zu.
In der Mülltonne tauchten zwei weitere Köpfe auf. Ich blinzelte überrascht. Eine ältere Frau und ein Junge im Teenageralter kletterten eilig aus dem Abfall und rannten die Straße hinunter. Das Mädchen, das nicht viel älter als zehn sein konnte, rührte sich nicht vom Fleck, doch sie zitterte, als ich näher kam. Sie war klapperdürr und ihre Kleidung, T-Shirt und Hose, war zerschlissen. Ihr kurzes Haar war unterhalb des Kinns lieblos abgesäbelt worden und leuchtete rot im Sonnenschein.
Ich wartete einen Moment, um sie nicht ebenfalls zu verschrecken. »Hey«, sagte ich noch einmal, »was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?«
Wortlos starrte sie mich an. Ich konnte nur mit Mühe ihre Gesichtszüge unter all dem Dreck erkennen.
Als sie nicht antwortete, zuckte ich mit den Schultern und ging auf sie zu. Vielleicht ließ sich in dieser Mülltonne ja noch irgendetwas Brauchbares auftreiben.
Als ich noch etwa drei Meter entfernt war, stieß das Mädchen einen erstickten Schrei aus und
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