Legend - Fallender Himmel
stürzte davon. Sie rannte so schnell, dass sie stolperte und mit den Händen und Knien auf dem Asphalt landete. Ich humpelte zu ihr hinüber. Mein Knie bereitete mir damals noch mehr Probleme und ich erinnere mich daran, dass ich in meiner Hast strauchelte. »Hey! Alles in Ordnung?«
Sie zuckte zurück und hob ihre zerkratzten Hände, als wollte sie ihr Gesicht schützen. »Bitte«, wimmerte sie. »Bitte, bitte.«
»Bitte was ?« Dann seufzte ich, beschämt über meine schroffe Reaktion. Ihre Augen füllten sich bereits mit Tränen. »Hör auf zu weinen. Ich will dir doch gar nichts tun.« Ich kniete mich neben sie. Erst schluchzte sie auf und versuchte wegzukrabbeln, aber als sie sah, dass ich ihr nicht folgte, blieb sie sitzen und starrte mich an. Sie hatte sich beide Knie aufgeschürft, das Fleisch darunter war scharlachrot.
»Wohnst du hier in der Nähe?«, fragte ich sie.
Sie nickte. Dann, als wäre ihr plötzlich etwas eingefallen, schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie schnell.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«
»Ich hab kein Zuhause.«
»Nein? Wo sind denn deine Eltern?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
Ich seufzte und ließ meinen Leinenbeutel zu Boden fallen. Dann streckte ich ihr die Hand hin. »Komm. Du willst doch nicht, dass sich das entzündet. Ich helfe dir, die Wunden zu säubern, und dann kannst du gehen, wohin du willst. Du kannst auch was von meinem Essen abhaben. Na, hört sich das gut an?«
Es dauerte lange, bis sie ihre Hand in meine legte. »Okay«, flüsterte sie, so leise, dass ich es kaum hören konnte.
In dieser Nacht kampierten wir hinter einem Pfandhaus, an dessen Hintertür zwei alte Stühle und ein Sofa mit zerrissenem Polster auf der Straße standen. Ich säuberte die Kniewunden des Mädchens mit Alkohol, den ich in einer Bar gestohlen hatte, und gab ihr einen Stofffetzen zum Draufbeißen, damit sie nicht schrie und die Aufmerksamkeit der Leute auf uns lenkte. Wenn ich mich nicht gerade um ihre Wunden kümmerte, durfte ich ihr nicht zu nahe kommen. Streifte meine Hand aus Versehen ihr Haar oder stieß gegen ihren Arm, zuckte sie zusammen, als hätte sie sich an heißem Dampf aus einem Kessel verbrannt. Irgendwann gab ich meine Versuche auf, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Ich überließ ihr das Sofa, knüllte mein Hemd zu einem Kopfkissen zusammen und versuchte, auf dem harten Straßenpflaster eine einigermaßen gemütliche Position zu finden.
»Wenn du morgen früh gehen willst, dann mach das einfach«, sagte ich zu ihr. »Du musst mich nicht wecken oder mir Auf Wiedersehen sagen oder so.« Meine Augenlider wurden schwer, sie aber blieb hellwach und starrte mich ununterbrochen an, bis ich schließlich einschlief.
Am nächsten Morgen war sie immer noch da. Sie folgte mir, als ich die Mülltonnen nach alten Kleidern und brauchbaren Essensresten durchsuchte. Ich bat sie zu gehen. Ich schrie sie sogar an. Ein Waisenkind am Hals konnte ich nicht gebrauchen. Doch obwohl ich sie ein paarmal wirklich zum Weinen brachte - wenn ich anschließend einen Blick über die Schulter warf, war sie immer noch da und folgte mir in ein paar Metern Abstand.
Zwei Abende später, als wir vor einem Feuer saßen - aus allem Möglichen zusammengetragen, was wir zum Verbrennen finden konnten redete sie zum ersten Mal mit mir. »Ich heiße Tess«, wisperte sie. Dann studierte sie mein Gesicht, als wollte sie meine Reaktion abschätzen.
Ich zuckte nur mit den Schultern. »Okay.«
Und damit war die Sache besiegelt.
Tess schreckt aus dem Schlaf hoch. Ihr Arm trifft mich hart am Kopf.
»Aua«, murmele ich und reibe mir über die Stirn. Ein brennender Schmerz zuckt durch meinen langsam heilenden Arm und in meiner Tasche höre ich die silbernen Munitionskugeln in ihrem Plastikbeutel rasseln. »Wenn du mich wecken wolltest, hätte ein kleiner Stupser auch gereicht.«
Sie legt einen Finger über ihre Lippen. Jetzt bin ich alarmiert. Wir sitzen noch immer unterhalb der Uferpromenade, vermutlich ist es ein paar Stunden vor Sonnenaufgang und die Skyline der Stadt ist inzwischen dunkel geworden. Das einzige Licht rührt von ein paar antiken Straßenlampen her, die das Seeufer säumen. Ich werfe Tess einen Blick zu. Ihre Augen schimmern in der Dunkelheit.
»Hast du was gehört?«, flüstert sie.
Ich runzele die Stirn. Normalerweise vernehme ich verdächtige Geräusche immer als Erster von uns beiden, aber diesmal höre ich rein gar nichts. Eine Weile sind wir mucksmäuschenstill. Ich
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