Legend - Fallender Himmel
Nacht nach deinem zehnten Geburtstag? Was hast du denn da in dem Labor gemacht? Da hättest du doch auf dem Weg ins Arbeitslager sein müssen.«
Day lächelt kaum merklich, als wäre er kurz davor einzuschlafen. »Und ich habe gedacht, du wärst die Schlaue von uns beiden ...«
Die Sonne scheint noch nicht alle Überheblichkeit aus ihm herausgebrannt zu haben. »Und was ist mit dieser alten Knieverletzung?«
»Die habe ich auch von deiner Republik. Das war in derselben Nacht, in der sie mir diese ›Unregelmäßigkeit‹ im Auge verpasst haben.«
»Warum hätte die Republik dir solche Wunden zufügen sollen, Day? Warum sollten sie jemandem schaden wollen, der den Großen Test mit vollen 1500 Punkten abgeschlossen hat?«
Das lässt Day aufmerken. »Wovon redest du eigentlich? Ich bin durchgefallen.«
Er weiß es nicht. Natürlich nicht. Ich senke die Stimme zu einem Flüstern. »Nein, bist du nicht. Du hast die volle Punktzahl erreicht.«
»Soll das irgendein Trick sein oder so?« Day bewegt sein verletztes Bein ein Stückchen und verkrampft sich vor Schmerz. »Die volle Punktzahl ... na klar. Ich kenne niemanden, der jemals die 1500 geschafft hätte.«
Ich verschränke die Arme. »Doch, mich.«
Er blickt mich mit erhobenen Augenbrauen an. »Du? Dann bist du dieses Wunderkind?«
»Ja.« Ich nickte ihm zu. »Und du bist anscheinend auch eins.«
Day verdreht die Augen und sieht wieder weg. »Das ist doch lächerlich.«
Ich zucke mit den Schultern. »Wenn du meinst.«
»Das ergibt doch keinen Sinn. Sollte ich dann nicht jetzt in einer ähnlichen Position sein wie du? Ist das nicht das Ziel bei eurem tollen Großen Test?« Day hält kurz inne, dann aber redet er weiter. »Sie haben mir irgendwas ins Auge injiziert, das gebrannt hat wie Wespengift. Und sie haben mir das Knie aufgeschnitten. Mit einem Skalpell. Dann haben sie mir mit Gewalt irgendwelche Medizin eingeflößt und das Nächste, woran ich mich erinnern kann ... ist, dass ich in einem Krankenhauskeller inmitten einem Haufen Leichen aufgewacht bin. Bloß, dass ich nicht tot war.« Er lacht wieder. Es klingt so schwach. »Super Geburtstag.«
Sie haben Versuche an ihm durchgeführt. Wahrscheinlich für Militärzwecke. Ich bin mir jetzt ganz sicher und bei dem Gedanken wird mir schlecht. Sie haben ihm Gewebeproben aus dem Knie entnommen, genau wie aus dem Herzen und dem Auge. Knie: Vermutlich wollten sie den Grund für seine überragenden körperlichen Fähigkeiten herausfinden, seine Schnelligkeit und Wendigkeit. Auge: Vielleicht haben sie ihm gar nichts injiziert, sondern vielmehr etwas entnommen, um hinter das Geheimnis seiner unglaublichen Sehkraft zu kommen. Herz: Wahrscheinlich haben sie ihm irgendein Medikament verabreicht, um zu sehen, wie weit sie seine Herzfrequenz senken können, und waren dann enttäuscht, als es vorübergehend komplett aufhörte zu schlagen. Sie dachten, er wäre gestorben. All das ließ nur einen einzigen Schluss zu: Sie wollten aus diesen Gewebeproben irgendetwas entwickeln, was, weiß ich nicht - Pillen, Kontaktlinsen, was auch immer unsere Soldaten besser macht, sie schneller rennen, schärfer sehen, cleverer planen oder härtere Bedingungen ertragen lässt.
All das schießt mir innerhalb einer Sekunde durch den Kopf, bevor ich es verhindern kann. Das kann nicht sein. Das widerspricht allen Werten der Republik. Warum sollte man ein hochbegabtes Kind derart verschwenden?
Es sei denn, sie haben eine Bedrohung in ihm gesehen. Einen aufmüpfigen Funken, dieselbe rebellische Art, die er immer noch an den Tag legt. Irgendetwas, das es in ihren Augen zu riskant machte, ihn auszubilden, sodass sie schließlich beschlossen, seinen möglichen Nutzen für die Gesellschaft zu opfern. In jenem Jahr haben achtunddreißig Kinder eine höhere Punktzahl als 1400 erreicht. Vielleicht war die Republik der Meinung, auf eins mehr oder weniger käme es nicht an.
Aber Day ist nicht bloß irgendein hochbegabtes Kind. Er hat die volle Punktzahl erreicht. Was an ihm hat sie also derart nervös gemacht?
»Darf ich jetzt auch mal was fragen?«, will Day wissen. »Bin ich jetzt dran?«
»Ja.« Ich sehe zum Aufzug hinüber, mit dem gerade die Wachablösung angekommen ist. Ich stehe auf, hebe die Hand und bedeute ihnen zu bleiben, wo sie sind. »Frag.«
»Ich will wissen, warum sie Eden mitgenommen haben. Die Seuche. Ich weiß, ihr Reichen habt es leicht - jedes Jahr neue Impfungen und alle Medikamente, die ihr nur braucht. Aber hast du dich
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