Legende der Angst
zurück.
Angela rannte zum Tank hinüber. Sie als Städterin kannte sich nicht mit Propangas aus. Im Licht der Scheinwerfer untersuchte sie den Tank. Er hatte eindeutig eine Delle abbekommen, und das beunruhigte sie. Jim war wenige Augenblicke später an ihrer Seite und tastete die Beule mit seiner großen Hand ab.
»Ich denke, er ist okay«, sagte er.
»Bist du sicher? Oder sollte ich lieber meinen Großvater wecken?«
»Für den Moment wird es auch so gehen. Wenn der Tank lecken würde, könnten wir es sehen. Aber jemand sollte das morgen früh genau untersuchen. Falls der Tank repariert werden muß, werde ich die Rechnung übernehmen.«
»Er wird bestimmt nicht explodieren?« Anfangs, als sie hier eingezogen war, hatte sie das Gefühl gehabt, neben einer Atombombe zu schlafen.
»Man müßte schon mit voller Wucht in den Tank hineinrasen, um ihn zur Explosion zu bringen.« Er schwieg eine Weile und ließ den Blick über den zylinderförmigen Tank wandern. »Aber es überrascht mich, daß dein Großvater einen so großen Tank hat. Normalerweise gibt es Tanks dieser Größe nur auf einer Farm, wo man einen großen Stall mitheizen muß.«
»Großvater hat mir erzählt, daß hier bis vor zehn Jahren noch fünf Häuser gestanden haben. Sie sind alle vom selben Tank aus mit Gas versorgt worden.«
»Was ist mit ihnen passiert?«
»Ich glaube, sie sind abgebrannt«, antwortete Angela. »Du mußt damals um die zehn gewesen sein. Erinnerst du dich nicht daran, davon gehört zu haben?«
»Doch, jetzt, wo du es sagst.«
»Du hast immer schon in Point gelebt, nicht wahr?«
»Ja.« Er deutet mit dem Kopf in Richtung des Tanks. »Ein großes Feuer hätte den hier in den Himmel schießen können.«
»Und was wäre die Folge einer solchen Explosion?« wollte sie wissen.
»Wenn der Tank gerade vollgetankt wäre, würde sie das Haus in die Luft jagen.« Er schnappte mit den Fingern. »Einfach so.«
»Ich glaube, Großvater hat ihn gerade vollgetankt.«
Er lachte. »Nun, dann werde ich versuchen, nicht wieder in ihn hineinzufahren.«
Angela sah Bilder einer verheerenden Explosion vor Augen. Ohne ersichtlichen Grund war sie plötzlich aufgeregt. »Wenn der Tank in die Luft fliegen würde, würde das einen Krater in den Boden reißen?«
»Einen Krater?«
»Ja, du weißt schon, so als ob ein kleiner Meteorit hier eingeschlagen wäre?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß das passieren würde. Warum fragst du?«
»Ach, es war nur so eine Idee«, antwortete sie.
Angela eilte ins Haus, um noch kurz das Bad aufzusuchen, bevor sie losgingen. Jim folgte ihr nach drinnen. Plastic schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa. Der Hund öffnete nicht einmal die Augen. Und natürlich war ihr Großvater überhaupt nicht zu Hause. Das verleitete Jim zu der spöttischen Bemerkung, daß Angelas Großvater in gewissen Dingen ziemlich berühmt-berüchtigt sei. Fast schwang so etwas wie Neid in seiner Stimme mit.
Wenige Minuten später gingen sie Hand in Hand am Ufer des Sees entlang. Angela konnte sich nicht mehr daran erinnern, wer wessen Hand ergriffen hatte, aber es schien einfach richtig, wie es war. Ihre Schuldgefühle Mary gegenüber plagten sie immer noch, aber sie schob sie beiseite. Darüber konnte sie sich später Gedanken machen. Ihre Finger verschwanden fast ganz hinter denen von Jim. Keiner von ihnen sagte viel, während sie nebeneinander herschlenderten, und das war in Ordnung so. Die Mondsichel hing im Westen tief am Himmel, und ihr silbriges Licht glitzerte auf dem Wasser und schimmerte auf Angelas bloßen Armen. Das einzige Geräusch war das rhythmische Zischen der Pumpen auf den Ölförderstellen hoch oben in den Bergen, die den See überblickten. Obwohl sie zum Teil hinter Bäumen versteckt waren, sah Angela hier einen Schandfleck in einer sonst so schönen Gegend. Genau das sagte sie zu Jim.
»Diese Bohrstellen bringen ein Vermögen ein«, erklärte Jim. »In den letzten fünf Jahren sind dort täglich mehr als tausend Barrel Öl gefördert worden. Und die Pumpen machen nicht viel Lärm. Du hörst sie jetzt nur, weil es spät ist und sich sonst nichts und niemand mehr rührt. Es sind moderne Pumpen, und sie werden überwiegend mit Luftdruck betrieben statt wie früher mit Benzinmotoren.«
»Du hörst dich an, als hättest du ein Faible für diese Dinger.«
Er grinste. »Mein Vater ist zu einem Fünftel Inhaber der Aktiengesellschaft, der diese Pumpen gehören. Der Wagen, den ich fahre, ist von Geld bezahlt, das
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