Legende von Eli Monpress 02 - Herr des Windes
perfekten Kreis nach, der in das weiche Metall gestanzt war. Er sollte symbolisieren, dass alles mit allem verbunden war, von den kleinsten Geistern zu den größten Königen, und er stand auch für die Pflicht des Geisterhofes, das Gleichgewicht innerhalb dieser Verbindung aufrechtzuerhalten.
Die feuchte Meeresbrise peitschte ihr die Haare ins Gesicht, als sie den Kopf drehte, um Gin nachzusehen. Gleichgewicht und Pflicht, Richtig und Falsch. Und während sie darüber nachdachte, konnte sie Banages verächtlichen Blick förmlich spüren, und sie hörte die tiefe Stimme ihres Mentors in ihrem Kopf widerhallen. Konnte es eine größere Schande für den Geisterhof geben als eine Spiritistin, die einem Geist in Nöten den Rücken zukehrte?
Sie griff in ihre Tasche und zog das flache, gefaltete Stück Papier heraus, das Lelbon ihr gegeben hatte. Vorsichtig drehte sie es und faltete das zerbrechliche Papier wieder und wieder auf, bis sie ein farbenfrohes Viereck aus Rot, Grün und Gold von fast einem Meter Seitenlänge in den Händen hielt. Es stand nichts darauf, keine Notiz, keine Anweisung, aber als sie die Mitte des Vierecks erreichte, endete das Papier in einer Spitze, an der eine lange Schnur befestigt war. Miranda fühlte sich ein wenig dumm, als sie aufstand und das flatternde Papier sorgfältig über das Wasser hielt. Sie ging zum Rande des Strandes und warf den Drachen in die Luft. Sofort sauste er mit flatternden Seiten nach oben in den Himmel, gehalten von der Schnur, die sich Miranda um die Hand gewickelt hatte. Für einen langen Moment tanzte der bunte Drache fröhlich im Meereswind. Dann, ohne Vorwarnung, riss ihr der Wind den Drachen aus der Hand. Das farbenfrohe Stück Papier schlug Saltos und wirbelte in den Himmel davon, immer Richtung Westen, übers Meer hinweg.
Miranda beobachtete den Drachen, bis er hinter den Wolken verschwunden war; dann machte sie sich auf, um Gin zu finden. Sie musste nicht lange suchen. Wenige Augenblicke später kam er herangetrottet und wirkte dabei unglaublich selbstgefällig.
»Ich wusste, dass du wieder zu dir kommen würdest«, meinte er mit wedelndem Schwanz. »Brechen wir gleich auf, oder brauchst du noch etwas?«
Miranda blickte zur Höhle zurück. Ihr kleines Feuer war bereits ausgegangen, und all ihre anderen Besitztümer trug sie am Körper.
»Ich glaube nicht«, antwortete sie. »Ich bin bereit, wenn du es bist.«
»Ich bin schon seit guten fünf Tagen bereit«, grummelte Gin und legte sich in den Sand, damit sie auf seinen Rücken klettern konnte. Als sie sicher saß, sauste er los und erklomm den ersten Felsvorsprung mit einem einzigen Satz. Der Strand verschwamm förmlich unter ihnen, und Miranda fühlte, wie all ihr Blut in die Beine sackte. Beim dritten Sprung kratzten Gins Krallen über nackten Stein, und Miranda musste die Augen schließen, damit ihr nicht schlecht wurde. Dann standen sie auf der Ebene über der Klippe, und Gin fragte sie nach dem Weg.
»Nach Südosten«, sagte Miranda.
»Wie weit?«, fragte Gin, der bereits über das karge Gras sprang.
»Ich weiß es nicht.« Miranda biss sich auf die Lippe. »Wenn wir uns östlich halten, erreichen wir die Straße zum Fluss, aber wenn wir querfeldein reisen, vielleicht zwei volle Tage im Trab?«
»In Ordnung«, sagte Gin mit einem Nicken. »Dann sind wir morgen früh da.«
»Morgen früh?«, spottete Miranda. »Du kannst nicht fliegen, Promenadenmischung.«
»Nein?« Gin grinste. »Pass nur auf.«
Er nahm Geschwindigkeit auf und rannte schneller und schneller über die grünen Hügel, bis Miranda sich nur noch an ihm festhalten konnte.
»Gin!«, schrie sie über das Pfeifen des Windes. »Du kannst dieses Tempo nicht bis nach Fron aufrechterhalten!«
»Zerbrich dir den Kopf darüber, was wir machen, wenn wir ankommen«, schrie er zurück. »Überlass das Laufen mir.«
Miranda gab auf und klammerte sich einfach fest. Während sie ihre Finger im changierenden Fell des Geisterhundes vergrub, versuchte sie, darüber nachzudenken, was sie machen sollten, wenn sie Fron erreicht hatten. Doch ihr Kopf blieb leer. Schließlich wusste sie nicht mal, wonach sie suchten. Und auch wenn Lelbon erklärt hatte, der Westwind würde helfen, wusste sie nicht, welche Hilfe ein Großer Windgeist für passend hielt oder ob sie die Hilfe überhaupt erkennen würde, wenn sie gegeben wurde. Trotzdem: Wieder auf der Straße zu sein und auf eine Aufgabe zuzulaufen machte sie glücklicher, als sie es seit ihrer Ankunft
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