Legenden der Traumzeit Roman
war erstaunt über die Vielzahl an Dienern, die aus dem Haus strömten, um das Gepäck zu holen. Verglichen mit dem spärlichen Personal auf dem Anwesen in Cornwall, waren Olivers feudales Haus und die zahlreiche Dienerschaft ein Beweis dafür,dass man es auch als jüngerer Sohn, unbelastet von einem Titel, zu etwas bringen konnte.
Nachdem er Lavinia aus der Kutsche geholfen hatte, wandte er sich wieder zum Haus, wo eine schlanke, stille Gestalt im Eingang erschien. Ihre Schönheit war auffallend, trotz des streng gescheitelten Haars, des dunkelgrauen Kleides und des Mangels an weiblicher Zierde. Die blauen Augen, die einst fröhlich gestrahlt hatten, waren zu Schlitzen verengt, während sie das emsige Treiben mit einem Hauch von Missbilligung verfolgte.
»Gertrude?« Er konnte kaum glauben, dass dies die Stiefschwester war, die ihre Mutter auf der Überfahrt von Cornwall nach New South Wales zur Welt gebracht hatte. Wo war das glückliche Lächeln geblieben, an das er sich erinnerte? Anscheinend war es in dieser kleinen zugeknöpften Person verschwunden, die hier auf sie wartete.
»Nun komm schon und begrüße mich, Harry! Ich kann hier nicht den ganzen Tag herumstehen, wenn so viel zu tun ist.« Ihre Stimme wäre der ganze Stolz eines Stabsfeldwebels gewesen, und Harry gehorchte demütig. »Schön, dich endlich zu sehen!«, sagte sie, nachdem sie seine Wange geküsst hatte.
Harry umarmte sie unbeholfen und fand sie starr, wobei die Steifheit vermutlich nicht nur den knarrenden Fischbeinen ihres Korsetts zuzuschreiben war. Ihre Kleidung roch nach Kampfer und einem Hauch von Lavendelwasser, doch sie trug weder Schmuck noch Spitze oder Bänder, die das strenge Grau aufgelockert hätten, sondern nur eine Kette um die Taille, an der Schlüssel klirrten.
Sie löste sich aus seiner Umarmung, faltete die Hände und musterte ihn kritisch. »Du bist besser gealtert als Oliver«, stellte sie knapp fest. »Ich sage ihm immer, er soll nicht so viel essen und trinken.« Sie schaute über seine Schulter. »Willst du mir nicht deine Frau und deinen Sohn vorstellen?«
Er wurde tatsächlich rot und kam sich so töricht vor wie einJunge vor einer furchteinflößenden Kinderfrau. Nach der Bekanntmachung wurden sie in die Diele gebeten. Er wagte nicht, dem belustigten Blick seiner Frau zu begegnen.
»Die Diener werden sich um euer Gepäck kümmern«, sagte Gertrude. »Ich muss mit der Küche das Abendessen besprechen.« Ohne Amelia eines Blickes zu würdigen, eilte sie davon; die Schlüssel klapperten bei jedem energischen Schritt.
Während die anderen den Dienern nach oben folgten, schaute Harry seinen Bruder an. »Was um alles in der Welt ist denn mit Gertrude passiert? Und warum hat sie die Rolle der Haushälterin übernommen?«
Oliver seufzte. »Gertie ist ganz sicher nicht mehr das hübsche kleine Ding, das du in Erinnerung hast. Sie kann manchmal sehr hochtrabend sein, und die arme Amelia hat Angst vor ihr.« Er führte Harry in einen Nebenraum, der als Büro ausgestattet war. »Ich könnte einen Drink gebrauchen«, murmelte er.
»Für mich nicht.«
Oliver hob eine Augenbraue, zuckte mit den Schultern und schenkte sich großzügig Whisky ein, bevor er sich in einen tiefen Ledersessel fallen ließ. »Mir war gar nicht klar, dass du dich der Abstinenzbrigade angeschlossen hast.«
»Ich rühre das Zeug nicht an«, erwiderte Harry. »Du wolltest mir von Gertie erzählen.«
»Bevor Mama und George zu dieser letzten, tödlichen Reise aufgebrochen sind, hat Mama Gertie gebeten, sich bis zu ihrer Rückkehr um uns zu kümmern. Ich fürchte, sie hat diese mütterliche Vorsorge zu wörtlich genommen und ist bei uns eingezogen.« Oliver seufzte. »Ich hatte gehofft, sie zu verheiraten, doch sie weist alle Freier ab und scheint es vorzuziehen, allein zu bleiben.«
»Aber Gertie ist doch erst fünfunddreißig – jung genug, einen Mann zu finden, statt sich hier zu verkriechen und Haushälterin zu spielen.«
»Gertrude ›spielt‹ nichts, Harry, das kann ich dir versichern«,sagte er nüchtern. »Sie nimmt ihre Pflichten sehr ernst – so sehr, dass sie Amelia beinahe verdrängt.« Oliver trank sein Glas in einem Zug leer und schenkte nach. »Ich fürchte, unsere kleine Stiefschwester ist fest entschlossen, eine alte Jungfer zu werden. Nachdem sie ihr Talent entdeckt hat, meinen Haushalt zu führen, kann sie vermutlich nur eine Sprengladung umstimmen.«
»Wie traurig!« Harry ließ einen prüfenden Blick durch den Raum
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