Legenden der Traumzeit Roman
»Mr. Lawrence bat mich, Sie abzuholen, als ich in die Stadt fuhr, um Vorräte zu holen. Das hier hat er als Empfehlung mitgeschickt.«
Jessie nahm ein ziemlich schmuddeliges Stück Papier entgegen und las die gestochen scharfen Schriftzüge einer geübten Hand. Mr. Lawrence entschuldigte sich dafür, sie nicht abgeholt zu haben, doch er könne seine Arbeit in der Lawrence Creek Mission nicht ruhen lassen. Abel Cruickshank sei ein zuverlässiger Freund, der ihr auf der langen Fahrt Schutz bieten und Gesellschaft leisten werde, und sie solle sich nicht in Sydney Town vertrödeln.
Sorgfältig legte sie den Brief zusammen und schaute zu Mr. Cruickshank auf. Ihre Blicke trafen sich, und in dem Augenblick spürte sie, wie ihre Ängste schwanden.
»Wer ist das?« John schob sich zwischen sie, Daniel folgte ihm auf den Fersen.
Jessie stellte Mr. Cruickshank ihren Brüdern vor. »Mr. Lawrence hat ein Empfehlungsschreiben mitgeschickt.« Sie hielt ihm den Brief entgegen, während die Männer sich finster ansahen.
John überflog den Brief und reichte ihn zurück. »Können Sie beweisen, dass Sie der sind, für den Sie sich ausgeben?«, knurrte er, und seine Nase war nur wenige Zentimeter vom Gesicht des anderen Mannes entfernt.
Abel wich nicht von der Stelle und zog einen ganzen Stapel Briefe aus seiner Manteltasche. »Die sind alles, was ich habe«, sagte er ruhig. »Ich habe sie heute Morgen im Handelskontor abgeholt. Sie werden sehen, dass sie alle an Mr. Lawrence adressiert sind.«
John blätterte sie durch und gab sie brummend wieder zurück. »Wo ist diese Schule, und wie lange braucht man dorthin?«
Jessie wollte sich schon einschalten, als John ihr Einhalt gebot. »Er soll es sagen, Jess. Jeder könnte Anspruch auf diese Briefe erheben.«
»Die Schule befindet sich in der Lawrence Creek Mission, die ungefähr neunzig Meilen nordwestlich von hier im Hunter Valley liegt«, erklärte Abel, in dessen Augen am Ende doch Wut aufblitzte. »Man braucht über eine Woche, um dorthin zu kommen, weil ich eine Wagenladung voller Vorräte habe, zwei Milchkühe und eine Reihe Pferde, um die ich mich unterwegs kümmern muss.« Mit freundlicher Miene schaute er auf Jessie. »Seien Sie unbesorgt, Miss Searle, Sie werden bei mir ziemlich sicher sein.«
»Dann wollen wir uns den Wagen mal anschauen.« John und Daniel nahmen die Truhe zwischen sich und folgten Abel.
Jessie sah ihnen nach und stellte fest, dass ihre Brüder sie in ihrem Bestreben, ihre Ehre zu verteidigen, vergessen hatten, hob mit ungehaltenem Seufzer die Tasche hoch und ging ihnen nach. Anscheinend waren ihre Brüder entschlossen, Mr. Cruickshank nicht zu mögen. Allerdings konnten sie keinen Mann unter sechzig leiden, der sich ihr näherte – und Mr. Cruickshank war entschieden zu jung und gut aussehend.
Der Wagen war tatsächlich mit Säcken, Fässern und Werkzeugen beladen, und das Zugpferd, das aus einem Futtersack fraß, beäugte sie streitlustig. Ein aus Holz gefertigter Hühnerstall stand hinter dem Fahrersitz, das Hähnchen und sein Harem von fünf Hennen pickten hektisch an den Körnern. Zwei Kühe waren am hinteren Rad angebunden. Daneben standen acht Pferde in einer Reihe, die Halteseile um einen Baum geschlungen, in dessen Schatten ein schwarzer Mann saß und eine Tonpfeife rauchte.
Jessie blieb wie angewurzelt stehen, als dieser ziemlich furchterregend aussehende Mensch aufstand und auf sie zukam. Er war ähnlich gekleidet wie Mr. Cruickshank, war aber so schwarz, dass seine Gesichtszüge kaum zu erkennen waren; seine Haare waren wirr und zerzaust, und er trug keine Schuhe.
»Das ist Tumbalong«, erklärte Abel. »Er ist mein Stellvertreter und ein guter Kumpel.« Er grinste den Eingeborenen an. »Sag guten Tag, Tumbalong! Das ist die neue Lehrerin.«
Noch ehe Jessie das schüchterne Lächeln des Schwarzen erwidern konnte, schaltete sich ihr Bruder ein. »Von einer Reise mit Wilden war nicht die Rede gewesen«, krächzte er. »Komm, Jess, wir suchen dir woanders Arbeit.«
»Jetzt machen Sie mal halblang, Mann!«, brummte Abel und packte Johns Arm. »Ihr Geschwätz über Wilde ist mir egal. Er mag zwar schwarz sein, aber Tumbalong ist ein netter Kerl mit guter christlicher Unterweisung. Er ist mein Kumpel, und wenn ich sage, er ist in Ordnung, dann stimmt das. Verstanden?«
Unheilvolles Schweigen trat ein, in dem die beiden Männer sich anspannten.
Jessie trat um ihre Brüder herum und streckte die Hand aus. »Guten Tag,
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