Legenden der Traumzeit Roman
Feind. Der Whisky macht dich ebenso zum Sklaven wie das Opium, und weit davon entfernt, ein Allheilmittel zu sein, bietet er dir nur ein vorübergehendes Entrinnen vor der Realität. Die Realität, das sind deine Frau und dein Sohn. Liebst du sie denn nicht genug, um aufzuhören?«
Oliver trank das Glas leer. »Ich kann jederzeit aufhören, wenn ich will«, sagte er trotzig. »Und was die Liebe zu meiner Frau und meinem Sohn betrifft, was soll die Frage? Natürlich liebe ich sie; ich erhebe Einspruch gegen deine Anklage.«
»Ich war grob, weil ich mir Sorgen mache«, gestand Harry offen. »Ich habe gesehen, wie unser Vater sich in den Wahn gesoffen hat, und mir macht Angst, dass du denselben Pfad einschlägst.«
»Der Wahn unseres Vaters hatte mit seiner Trinkerei nicht viel zu tun.«
»Das Trinken hat ihm nicht geholfen.«
Die unausgesprochenen Worte lagen schwer zwischen ihnen. Harry fragte sich, ob Oliver sich an das geschundene Gesicht ihrer Mutter erinnerte, an das geschwollene blaue Auge und ihr Weinen in der Nacht; fragte sich, ob er an die Schulden dachte, die Edward, ihr Vater, hinterlassen hatte, an das verworrene Gespinst aus Intrigen und dunklen Taten, die sein Vermächtnis an seine Witwe und Söhne waren. Er hoffte es, denn das war die Realität, wenn man übermäßig viel trank und die Zukunft seiner Familie aufs Spiel setzte.
»Wir wollen nicht streiten«, sagte er. »Ich bin hier, um dir Hilfe anzubieten; ich will mir deine Sorgen anhören und versuchen, eine Lösung dafür zu finden, aber das kann ich nicht, wenn du dich mir nicht anvertraust.«
Oliver schielte nach dem leeren Glas und schob es beiseite. »Ich brauche tausend Pfund für das Eisenbahnprojekt«, sagte er ohne Umschweife. »Hast du so viel Geld, Harry?«
»Tausend Pfund? Ich wäre froh, wenn ich dreihundert zusammenkratzen könnte.«
»Dann kannst du mir nicht helfen.«
»Warum ein so hoher Betrag? Ich dachte, alle Finanzen wären geregelt?«
»Die Kosten für den Import des Stahls waren höher als erwartet. Hinzu kommt, dass die Lohnkosten ins Kraut schießen und Niall sich weigert, neu zu verhandeln. Einer aus dem Konsortium hat seine Unterstützung zurückgezogen, die Regierung will nicht helfen, und die Bank hat meinen Antrag auf einen weiteren Kredit abgelehnt. Ohne Nialls Investition fehlen mir tausend Pfund an meiner Bürgschaft für das Konsortium, und wenn ich die nicht binnen einer Woche auftreibe, werde ich nicht nur meine Stellung in dem Unternehmen verlieren, sondern alles, was ich bereits hineingesteckt habe.«
»Großer Gott!«, stöhnte Harry. »Ein schöner Schlamassel.«
»Gelinde gesagt, ja.«
Harry dachte kurz nach. »So wie es aussieht, ist ein anderer Investor die einzige Antwort. Es muss doch viele geben, die sich einem solchen Projekt anschließen wollen?«
»Wir leben hier in einem Land, das reich an Fläche, aber arm an Bargeld ist«, murrte Oliver. »Die Unternehmer, die uns vielleicht den Rücken gestärkt hätten, mischen bereits bei den Eisenbahnen mit, die in Melbourne, Adelaide, Perth und Van Diemen’s Land gebaut werden.«
Harry spitzte den Mund. »Warum ist einer aus dem Konsortium ausgeschieden? Konnte man ihn nicht überreden, wieder zurückzukehren?«
»Das hatte persönliche Gründe«, murmelte Oliver. »Er wollte in der Leitung der Sydney Railway Company mehr zu sagen haben. Ich bezweifle, dass man ihn zur Umkehr bewegen kann. Bei der letzten Vorstandssitzung sind harsche Worte gefallen.«
»Vermutlich könnte ich dir hundert Pfund leihen«, sagte Harry zögernd, »aber ich müsste zuerst mit Lavinia sprechen.«
Oliver zog eine Augenbraue hoch. »Deine Frau verwaltet den Geldbeutel?«
»Ja. Sie hat einen guten Riecher für Geschäfte, und ich vertraue ihrem Urteil vollkommen.« Er grinste. »Jetzt sieh mich nicht so schockiert an, Ollie! Manche Frauen sind gewiefter als jeder Mann, wenn es um Geschäfte geht, und ich glaube, es ist eine Schande, sie vom Handel auszuschließen und damit das ganze Talent zu verschwenden.«
»Ich darf gar nicht daran denken, was für ein Durcheinander Amelia anrichten würde, wenn ich ihr freie Hand mit dem Geld ließe. Sie hat schon genug Schwierigkeiten, ihr Taschengeld einzuteilen.«
»Aber Gertie hat den Haushalt bewundernswert im Griff«, rief Harry ihm ins Gedächtnis. »Würde man ihr die Chance geben, könnte sie vermutlich jedes Unternehmen leiten, denn siebesitzt eine feste Hand und ein scharfes Urteil.« Er seufzte. »Aber ich
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