Legenden der Traumzeit Roman
Kumali tröstete, Salbe auf deren Kratzer strich und versuchte, ihr zerrissenes Kleid auszubessern, entlockte sie dem Mädchen die Geschichte. Sie war erleichtert, dass Kumali tatsächlich nicht vergewaltigt worden war, doch es hatte nicht viel gefehlt, und sie spürte ihr schlechtes Gewissen. Ihr weiches Herz und ihre Sturheit hatten die Eingeborene in Gefahr gebracht. Wohl oder übel hatte sie einsehen müssen, dass sich James’ Misstrauen gegenüber den Aborigines nie ändern würde. Er mochte sie einfach nicht. Vielleicht wäre es besser gewesen, seinem Rat zu folgen, doch für Reue war es zu spät. Sie würde Kumali ein Messer geben.
Duncan traf mit den Schafen ein, als die letzte Erde auf Berts Grab geschaufelt wurde. Er hörte sich an, was James ihm über die Vorkommnisse berichtete, und spuckte dann mit finsterer Miene aus. »Immer gibt es Ärger, wenn Frauen in der Nähe sind«, sagte er kaum hörbar, »aber es klingt so, als hätte er es verdient. Ein Glück, dass wir ihn los sind!« Er verschwand in der Dunkelheit und machte es sich mit seinen Hunden und den Schafen innerhalb des Pferches bequem.
Als sie am nächsten Morgen wach wurden, war von Wally nichts zu sehen. Schlafsack und Sattel waren verschwunden, außerdem ein Pferd und ein Bündel mit Vorräten. Der Verlust eines zweiten Pferdes und weiterer Vorräte war ein Schlag, einen Helfer verloren zu haben war unerfreulich, aber niemand war überrascht, dass Wally beschlossen hatte, das Weite zu suchen.
Sechs
Lawrence Creek, Hunter Valley, Dezember 1849
D ie Schüler waren schon den gesamten Vormittag überdreht gewesen, und da es der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien war und sie sich auf die Feier am Abend vorbereiten wollte, hatte Jessie sie früher nach Hause entlassen. Sie stand auf der Treppe der Schule und beobachtete, wie die vierundzwanzig Kinder die Pferde sattelten, und winkte, bis sie außer Sichtweite waren.
Mit einem zufriedenen Seufzer ging sie wieder nach drinnen und begann aufzuräumen. Weihnachten war schon in wenigen Tagen, und die letzte Woche hatten sie damit verbracht, Geschenke zu basteln. Die älteren Jungen hatten Holzspielzeug geschnitzt, während die geschickteren Mädchen Stoffpuppen und Schürzen genäht sowie Topflappen gestrickt hatten. Die Kleinen hatten bunt verzierte Kalender gebastelt. Alle waren vertieft gewesen, die Köpfe über ihre Arbeit gebeugt; unterdessen hatte sie ihnen vorgelesen, Nadeln eingefädelt und geholfen, Wolle zu entwirren.
Nachdem sie die letzten Materialreste wieder in den Leinenbeutel an der Innenseite der Tür gesteckt und die Holzspäne ins Freie gekehrt hatte, setzte sie sich und genoss die Stille. Schweiß rann ihr über die Rippen, und sie tupfte sich mit einem Taschentuch die Feuchtigkeit von der Oberlippe. Ein merkwürdiges Gefühl, Weihnachten bei dieser Hitze zu feiern! Es sollte Schnee liegen, die Luft frostig sein, und Zehen und Finger müssten vor Kälte kribbeln, doch als sie aus dem Fenster schaute, sah sie nureinen wolkenlosen tiefblauen Himmel und Bäume in der Ferne, die wegen der flirrenden Hitze so wirkten, als stünden sie im Wasser.
Sie fragte sich, ob es ihren Brüdern wohl genauso erging. Dachten die beiden an sie, an die Weihnachtsfeste, die sie in Cornwall verbracht hatten, als ihre Mutter und Großmutter noch lebten? Schauten sie in denselben klaren Himmel, spürten sie die Hitze dieses südlichen Dezembers und sehnten sich danach, wieder zusammen zu sein? Sie seufzte aus tiefstem Herzen. Sie hatte nichts von ihnen gehört, doch sie war ja auch erst wenige Wochen hier und die Post hierher brauchte Monate. Sie hoffte nur, dass ihre Brüder in ihrem neuen Leben dieselbe Zufriedenheit gefunden hatten wie sie.
Jessie wurde klar, dass sie nicht müßig herumsitzen durfte, während Hilda für das Fest kochte, aber die Zeit verstrich, während ihr Blick auf den bunten Bildern von Rotkehlchen, Schneemännern und Misteln hängen blieb, die ihre Schulkinder an die Wand gesteckt hatten. Die Motive passten nicht zu diesem Klima, waren aber liebgewonnene Bilder, tradiert von Eltern und Großeltern, die diese Feiertage in viel kälterem Klima erlebt hatten.
Ihr Blick wanderte über die leeren Haken und die verlassenen Pulte. Die Zahl der Kinder hatte sie am ersten Tag eingeschüchtert. Obwohl die Schüler zwischen sechs und dreizehn Jahre alt waren, hatte sich erwiesen, dass sie leicht zu unterrichten waren. Die älteren Jungen hatten sie anfangs auf die Probe
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