Lehmann, Christine
nichts identifizieren. Vielleicht lag es daran, dass sie ve r kehrt herum stand, mit dem Südpol nach oben.
»Geil, nicht wahr!« In Gonzos Augen schimmerte Glückseligkeit. Dagegen wirkte Franco verwirrt und in sich gekehrt. Seinen Blick hatte er an Tamara festg e hängt. Ewig lockt das Weib.
»Setzt euch!«, sagte Tamara.
Erst jetzt fiel mir auf, dass wir uns in einem ve r gleichsweise irdischen, von Tischen und Stühlen b e herrschten Aufenthaltsraum befanden, einer Mischung aus Kantine und Freizeitgestaltung. Im Schatten der So n nenschutzplatten summte und brummte ein großer Schrank, der Lebensmittel von sich gab, Kombüse g e nannt, in den Regalen unterhalb der Fenster fledderten Bücher der bunten Sorte zwischen DVDs mit Action-Covern und abgestoßenen Schachteln mit Gesellschaft s spielen.
Der große Flachbildschirm flackerte schon. Dem Fa n farenfilm amerikanischer Machart entkam auch Gonzo nicht, obgleich er wie jeder ernsthafte Astronaut monat e lang am Boden in nachgebauten Teilen der Artemis jeden Ein- und Ausstieg und jeden Handgriff geübt hatte. Ihm waren die humanphysiologischen Multi-Diagnose anlagen, das Biolab oder die Experimentiera n lagen für giftige Materialien vertraut. Er wusste, wie man den R o tex steuerte, den Kameraarm, der von außen dreidimension a le Laserbilder schoss, wie man die LRVs fuhr, die Mon d fahrzeuge, den Tiefenbohrer bediente und die R o boter fernsteuerte. Er kannte die Innereien des H a bitats und sämtliche Notfallpläne.
Die Kamera flog über das achttausend Meter hohe Malapert-Gebirge nach Süden, vorbei am Krater Scho e maker, in dessen Hintergrund man den noch größeren Amundson sich weiten sah.
»Als US-Präsident George W. Bush in seiner berüh m ten Rede vor der NASA eine Erneuerung des Entdecke r geistes forderte«, polierte der Sprecher die Bilder, »war das der Startschuss für die bemannte Raumfahrt zum Mond.«
Bushs Bubengesicht blendete sich über die Krater lan d schaft. »Wir werden auf dem Mond oder Mars Bode n schätze entdecken, die unsere Vorstellungskraft überste i gen. Und die Faszination, die durch künftige Weltrau m forschung entsteht, wird unsere jungen Menschen anr e gen, Mathematik und Ingenieurswissenschaft zu studi e ren, und eine neue Generation von Pionieren hervorbri n gen.«
Franco knurrte unwillig.
»Ihr Spanier mögt doch Bush und seine Kriegszüge!«, frotzelte Gonzo.
Franco schnaubte. »Ich bin Katalane.«
Die Kamera flog über die Fotovoltaikanlagen, Bren n türme, Rohre und Reaktoren des Gewerbeparks auf die Artemis zu. Ein lunar roving vehicle mit Riesenreifen stand zwischen igluartigen Hütten. Fahrspuren, die kein Wind jemals verwehen und kein Regen je auswaschen würde, verzweigten sich auf der weiten, von Schatten vernarbten Fläche am Rand des Shackleton-Kraters . Smaragdgrün leuchtete das große Gewächshaus unter zolldicken Glasschichten mit UV-Schutz auf. Berghüttig spickten die sechs ringförmig gebündelten Tonnenmod u le aus dem Kegel Mondstaub, obenauf die Cupola mit ihren sieben dunklen Sonnenschutzscheiben, in der wir uns gerade befanden.
»Und wann dürfen wir raus?«, fragte ich. »Meine Mutter sagt immer: Fernsehen macht viereckige Augen!«
»Ihr werdet alle euren Mondspaziergang bekommen«, antwortete Tamara.
Doch zunächst mussten wir uns mit der virtuellen Vo gelperspektive zufriedengeben.
Auf dem Landeplatz, zehn Kilometer nördlich des Habitats , stand ein Lu-Bus, jenes spinnenförmige vie r fü ßige Gerät mit dem Transportmodul als Leib, in dem wir von der Mondorbitstation herabgeplumpst waren. Auße r dem durchschnitt eine kilometerlange Röhre die graue Wüste: der Massetreiber, der die ATV-Kapseln für unbemannte Transporte nach dem Prinzip der Magne t schwebebahn Richtung Erde in den Orbit katapultierte, und zwar mit einer Geschwindigkeit größer als die Fluchtgeschwindi g keit von 8230 Stundenkilometern. Welcher Komiker war nur auf die Idee gekommen, die Geschwindigkeit, die ein Gegenstand brauchte, um aus der Gravitation eines Himmelskörpers hinausgetragen zu werden, Fluchtg e schwindigkeit zu nennen?
Obgleich Starts und Landungen umso teurer, weil energieaufwendiger waren, je weiter weg vom Äquator sie stattfanden, hatte man sich nicht nur wegen des ene r giespendenden Dauerlichts, sondern auch wegen der Hoffnung auf gefrorenes Wasser in den umliegenden Nachtkratern am Südpol installiert. Diverse Roboter w a ren auf dem Weg nach unten, um im tiefgefrorenen G e stein nach
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