Lehmann, Christine
vereistem Wasser zu bohren. Die Kratertrichter w a ren so unirdisch steil und schroff, dass man die Roboter ab seilen musste, und sie kamen nur sehr lan g sam voran. Einen bemannten Abstieg konnte man nicht wagen. Die Temperatur in so einem Nachtkrater näherte sich null Kelvin an, minus 273 Grad Celsius. Da konnten sich nicht einmal mehr Atome bewegen.
Und welche Temperatur herrschte rund um die Art e mis? Hochdruckkochtopfhitze auf der Sonnenseite und minus sonst was im Schatten? Konnte man im Vakuum übe r haupt eine Temperatur messen, wenn es keine Atm o sphäre gab, also keine Teilchen, die mehr oder wen i ger zitterten? Auf dem Mond ähnelte alles physikalischen Knobelspielen.
Glücklicherweise verfügte die Station über jede Me n ge Energie. Es gab reichlich Silizium für die Fotovoltaik. Mit Sonnenspiegeln konnte man jede Art von Hitze auf einen Punkt fokussieren , Metalle verdampfen und Saue r stoff und Wasserstoff gewinnen. Es galt die amerikan i sche Pionierdevise: vom Land leben. Ein Atomkraftwerk war auch im Aufbau. Mit Leittechnik der TSE und Brennkammern der SSF. Davon hatte mir unten auf der Erde allerdings niemand erzählt!
»Der Boden ist überdies reich an Ilmenit«, erklärte der Sprecher, »ein Eisen-Titan-Oxid, das dem Mondgestein in den Maria die dunkle Farbe gibt und neben Sauerstoff auch Wasserstoff und Helium aus dem Sonnenwind en t hält.«
»Benannt nach Ilmenau«, sagte Gonzo im Übe r schwang geistiger Anspannung. »Der Bergwerksstadt im Thüringer Wald, wo Goethe das Gedicht in eine Holzhü t te auf dem Kickelhahn kritzelte: Über allen Wipfeln ist Ruh …«
»Die Terrae bestehen zum Großteil aus hellen Plag i o klasen, also Silikatmineralen …«
»Feldspat«, murmelte Franco, der Geologie studiert hatte.
»Das Aitken-Becken am Südpol bietet als größter Ei n schlagskrater unseres Sonnensystems mit seiner Tiefe von rund achttausend Metern den Geologen, die hier Mondkrustengestein vermuten, ein interessantes Fo r schungsgebiet.«
Dann endlich fuhr die Kamera durchs Innere der sechs aufgeblasenen Würste. Aufpassen! Wo war der Einstieg in die sublunaren Stockwerke, wo waren die Stationen mit dem Downlink zur Erde da drüben knapp überm Mondhorizont?
Im Sub befanden sich Herz und Hirn des Habitats. Das waren zum einen die Lebenserhaltungssysteme, best e hend aus dem chemisch-physikalischen System zur Rei n i gung von Luft und Wasser und aus MELISSA, die von der ESA entwickelte biologische Wiederaufbereitungsa n lage für Abfall und Abwasser in grünen Außenanlagen mit Teich für Algen, Wasserpflanzen, Kiesbettfiltern und Mikroorganismen. Die einzige Möglichkeit, den Gestank im Habitat in Grenzen zu halten.
Und da war zum anderen das Daten-Management- System, kurz DMS, das mithilfe zahlloser implementie r ter Systeme alle Betriebsabläufe überwachte, unzählige Mes s daten auswertete, Bewegungs-, Arbeits- und Gesund heit s protokolle der Habitatbewohner anfertigte oder halbau t o matische und vollautomatische Testreihen abw i ckelte.
Und dann das Entscheidende: An bestimmten Wer k stationen im Sub und in den Testlaborbereichen des pay load Service deck waren Privatgespräche per Vide o telefonie mit den Angehörigen möglich, sofern sie in ih ren Wohnzimmern die entsprechende Technik insta l liert ha t ten.
Das hatte Sally schon mal nicht.
Die Gespräche wurden breitbandig mit zirka fünfzig Megabits pro Sekunde über einen der acht TDRS-Satelliten abgewickelt. Diese Satelliten kreisten eigen t lich für die ISS um die Erde, schickten unsere Botscha f ten an die NASA-Bodenstation in White Sands, von wo sie nach Houston weitergeleitet und über das IGS, das Interconnection Ground Subnetwork, an europäische, japanische oder indische Kontrollzentren verteilt wurden.
Aus Angst vor Viren, Trojanischen Pferden und Phi s hing gab es auf der Artemis weder Internetzugang noch allgemeinen E-Mail-Verkehr. Doch jeder Einzelne – also auch ich – hatte eine direkte E-Mail-Adresse in Houston. Ein Administrator leitete die Mails dann weiter. So ung e fähr hatte ich mir das gedacht mit dem Briefgeheimnis.
Alle Energie- und Kommunikationssysteme waren zwei- bis dreifach ausgelegt, falls ein Bagger eine Le i tung zu den Kraftwerken oder Satelliten zerhaute, und zur Not gab es noch alten Radiofunk wie zu Zeiten der Apollo, mit Rauschen und Knistern.
Damit verglühte der Film.
In seltsam lichtem, dennoch farblosem Dunkelgrau breitete sich draußen die reale Mondwüste aus. Die So
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