Lehmann, Sebastian
jetzt kam mir noch kein einziger Hipster entgegen. Allerdings sind mir schon zwei Grüppchen Jugendliche in schwarzen Kapuzenpullis und riesigen Trainingshosen aufgefallen, die schlechten Hip-Hop aus scheppernden Handys hören. Einmal meinte ich sogar, den ADS-Jugendlichen aus der U-Bahn zu erkennen.Aber ich habe mich bestimmt geirrt, schließlich sehen diese ganzen Jugendlichen doch alle gleich aus, da stehen sie den identischen Hipstern in nichts nach.
Als ich an der Rütli-Schule vorbeilaufe, höre ich plötzlich laute Stimmen. Irgendjemand ruft: »Auf ihn.« Ich bleibe stehen und schaue mich um. Zum Glück scheine ich nicht gemeint zu sein. Da sehe ich in einer dunklen Seitenstraße mehrere Typen in Kapuzenpullis auf eine einzelne Gestalt zurennen. Sie trägt einen Stoffbeutel. Erschrocken bleibt der Beutelträger stehen, die Kapuzenpullis stürzen sich auf ihn und zerren ihn in einen Hauseingang. Dann ist es wieder still.
Der Kampf Kapuze versus Stoffbeutel hat keine zwei Minuten gedauert, und außer mir scheint ihn auch niemand beobachtet zu haben. Langsam gehe ich zu der Stelle, wo sie den Hipster überfallen haben, die Kapuzengang ist nirgendwo mehr zu sehen. Der Stoffbeutel liegt noch auf der Straße, daneben eine zerschmetterte Club-Mate-Flasche. Ich hebe den leeren Beutel auf und lese, was darauf steht: »Dich kriegen wir auch noch.«
Schnell laufe ich weiter. Meinen Stoffbeutel nehme ich lieber von der Schulter. Man weiß ja nie.
Als ich gerade in die Straße einbiegen will, in der Christina wohnt, steht plötzlich der ADS-Jugendliche aus der U-Bahn vor mir. Jedenfalls bin ich mir dieses Mal fast sicher, dass er es ist. Wieder trägt er seine neongelbe Kappe verkehrt herum auf dem eierförmigen Kopf und dazu die überdimensionalen Kopfhörer. Er trippelt nervös von einem Fuß auf den anderen, wobei die langen Arme an seinem dürren Körper herumschlackern. Mir wird schon vom Zuschauen ganz schwindlig.
»Hallo«, sage ich.
»EykrassAlterAlterAlter«, sprudelt es aus seinem Mund.
Rappt er jetzt wieder, oder ist das ein Versuch zwischenmenschlicher Kommunikation? Tatsächlich nimmt er seine Kopfhörer ab und beginnt unglaublich schnell zu sprechen:
»EyMannEyMannEyMannEyMann
EyMannEyMannEyMannEyMann
duOpferduOpferduOpferduOpfer
OpferduOpferduOpferduOpfer
duOpferduOpferduOpfer
duOpferduOpferduOpferduOpfer
duOpferduOpferduOpferdu
AlterAlterAlterAlter
EyAlterAlterAlterAlterAlter
EyAlterAlterAlterEyAlterAlter
EyAlterEyAlterEyAlterEyAlter
EyAlterEyAlterEyAlteEyAlterBitch.«
Für eine Sekunde steht er ruhig da, bis es noch einmal aus ihm herausbricht: »EyAlterAlterAlterMann.« Dann ist es still, nur sein schwerer Atem hallt noch durch die dunklen Neuköllner Straßen.
»Mein Lieber«, sage ich und tätschle sanft seinen Kopf, »ich weiß, dass ich ein Mann bin, das brauchst du nicht extra zu betonen. Und ich weiß auch, dass ich älter bin als du, okay? Und jetzt, mein Kleiner, solltest du dich ausruhen.«
Der ADS-Jugendliche setzt sich erschöpft auf den Gehweg. Ich beuge mich zu ihm hinunter, schüttle zum Abschied seine schlaffe Hand, drehe mich um und gehe weiter. Als ich bei Christina klingle, höre ich noch ein leises »EyAlterduOpfer« hinter mir, dann öffnet sich die Tür, und ich trete ins Treppenhaus.
Christinas und Dr. Albans Wohnungstür im vierten Stock steht einen Spalt offen. Ich betrete den dunklen Flur, stolpere über das Rennrad und kämpfe mich durch die unzähligenSchuhe, die in großen Haufen auf dem Boden liegen. Aus Christinas Zimmer dröhnt laute Musik. Seltsam schiefe Beats, darüber eine extrem hohe Stimme, die in einer mir unbekannten Sprache singt.
Christina sitzt im Schneidersitz auf ihrem Bett, also der Matratze auf dem Boden, und raucht wie Brigitte Bardot in Die Verachtung. Neben ihr auf der Decke liegt ein aufgeschlagenes, sehr dickes Buch.
»Hast du das schon gelesen?« Sie hält das Buch hoch, es ist das »Das verlorene Symbol« von Dan Brown.
Ich schüttle den Kopf. »Aber wieder ein total bescheuerter Titel.«
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Einerseits finde ich es gut, andererseits auch wieder ziemlich langweilig.«
Ihre pastellblauen Augen durchbohren mich. Immer dieser Blick. Freut sie sich, dass ich komme, oder langweile ich sie? Wahrscheinlich findet sie mich einerseits gut, andererseits aber auch ziemlich langweilig. Aber sind auch diese Gedanken nicht schon wieder ein wenig, äh, unangemessen für einen erwachsenen Mann in meinem
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