Lehmann, Sebastian
Sau!«
»Und das ist Biff«, flüstere ich Gary zu.
»Niemand nennt mich eine feige Sau«, ruft der Marty-Darsteller, und alle lachen.
Auch Gary scheint langsam zu verstehen. »Ach so«, stammelt er und nimmt hastig einen Schluck aus seiner Bierflasche.
»Das ist meine Kindheit«, sage ich zu Gary. »Aber alle anderen hier waren bestimmt noch nicht mal geboren, als die Filme rauskamen.« Genauso wie bei der schlechten Neunziger-Jahre-Musik im Kellerclub. Das scheint ein Grundmuster der neuen Hipster zu sein: Sie finden meine Kindheit und Jugend cool.
»Ich habe in meiner Kindheit ausschließlich Film-noir-Klassiker aus den vierziger Jahren angeschaut«, sagt Gary, und ich starre ihn nur an. Das Tragische an Gary ist einfach, dass alles tragisch war in seinem Leben bis jetzt.
Wir stehen eine Weile blöd im Raum rum, die anderen Partygäste scheinen sich alle zu kennen und unterhalten sich, ohne uns weiter zu beachten. Aus den Boxen dröhnt ein schlechter Rockklassiker von Huey Lewis & the News. Vielleicht ist es auch gut, dass Kurt nicht da ist, der würde das alles bestimmt total albern finden.
Wieder denke ich, dass ich anfangen sollte zu rauchen. Ich erinnere mich an Christina, wie sie sich heute Morgen mit dieser unglaublich selbstverständlichen Geste eine Zigarette in den Mund gesteckt hat. Als hätte sie unzählige französische Nouvelle-Vague-Filme aus den Sechzigern studiert, nur um sich die perfekte Art abzuschauen, sich eine Kippe zwischen die Lippen zu klemmen.
In diesem Moment knallt die Wohnzimmertür auf, und Christina und Dr. Alban stolpern ins Zimmer. Christina scheint ein wenig derangiert, ihre Hautfarbe hat sich ihrer blassblonden Haarfarbe angeglichen. Sie lässt sich auf einen Sessel fallen, erst dann sieht sie mich. Sie winkt mirschwach zu und wedelt sich theatralisch mit der Hand Luft ins Gesicht, als sei sie eine nervenschwache Hollywood-Diva aus einem der Filme, die Gary so gut findet. Sie beherrscht einfach alle Rollen. Ich will gerade zu ihr gehen, als mich Dr. Alban an der Schulter fasst.
»Ihr geht’s nicht so gut.«
»Das sehe ich«, sage ich. »Was ist los?«
»Nichts Schlimmes.«
»Bist du Arzt oder was?«
»Ich studiere Medizin.«
Ich lache laut auf. Soll das jetzt so ein Witz sein, wie ich ihn hätte machen können? Dr. Alban ist wirklich ein Doktor? Außerdem hätte ich nicht gerade erwartet, dass er Medizin studiert, sondern eher was mit Medien macht. So wie Christina. So wie ich. So wie alle eben.
In diesem Moment beugt sich Christina zur Seite und kotzt auf die abgezogenen Dielen. Ihre Augen sind immer noch geschlossen. Marty McFly, wahrscheinlich der Partygeber, seufzt laut auf.
»Unternimm doch was, wenn du schon Medizin studierst!«, sage ich zu Dr. Alban.
»Zahnmedizin.« Dr. Alban lächelt mich hinter seinen Brillengläsern seltsam an. Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, werde ich wieder von Würggeräuschen aus Christinas Richtung abgelenkt. Ihr Gesicht ist jetzt so weiß wie die unverputzten Wände der Altbauwohnung, in der wir gerade stehen. Ich springe zu ihr und streiche ihr über die schweißnasse Stirn.
»Sie hat wieder einen Latte macchiato getrunken«, sagt Dr. Alban und verdreht die Augen.
»Ich konnte mich heute bei der Arbeit einfach nicht beherrschen.«Christina scheint es langsam etwas besser zu gehen. »Wir haben da jetzt diese tolle neue Kaffeemaschine.«
Ich setze mich neben sie auf die Sessellehne, biete ihr von meinem Bier an, und sie nimmt einen kräftigen Schluck. Rock ’n’ Roll. Erst kotzen, dann saufen. Könnte ich nicht mehr.
»Kennst du eigentlich diesen gutaussehenden Typen da hinten?« Dr. Alban deutet auf Gary, der an seinem Bier nippend an der Wand lehnt und sich nicht recht entschließen kann, zu uns zu kommen. Das ist heute alles ein wenig viel für ihn. Ich winke ihm zu, und er grinst uns debil an.
»Ich mag seinen Stil«, sagt Dr. Alban. Christina muss kichern, aber der Doktor wirkt komplett ernst. »Interessante Kombination, das Hemd und die Ledertasche.«
»Ich glaube nichts von dem, was du sagst. Du studierst doch nie im Leben Zahnmedizin. Und du findest auch nicht, dass mein Chef einen guten Klamottenstil hat.«
»Das ist dein Chef?«, fragt Christina überrascht.
»Lieber Mark, du verstehst absolut nichts von dem, was hier abgeht.«
Er hat recht. Ihn verstehe ich zum Beispiel nicht.
»Hallo«, haucht Gary, der plötzlich neben uns steht. Ich stelle ihm Christina und Dr. Alban vor. Sie begrüßen ihn
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