Lehmann, Sebastian
nicht freiwillig hier auf, wollen keine Szenebars oder Sperrmüllmöbel-Cafés eröffnen – was ich weiß, die Lifestyle-Alte jedoch anscheinend nicht.
Ich muss dieser Sache mit den vermeintlich verschleppten Hipstern wirklich nachgehen, wenn es bloß nicht so viele andere Dinge gäbe, um die ich mich im Moment kümmern muss: Gary ist weg, ich bin Chef, die Praktikanten bedrängen mich mit ihrem obszönen Arbeitseifer, und Christina wurde gefeuert. Wahrscheinlich musste ich mich in meinem Leben noch nie um so viel kümmern, das ist geradezu beängstigend. Immerhin habe ich jetzt nicht mehr so viel Zeit, mich schlecht zu fühlen, weil ich alt und erfolglos bin. Besser als nichts. Da ist es wieder, mein Lebensmotto.
Ich bin bei Christina angekommen, sie steht auf, und wir umarmen uns. Eigentlich sieht sie nicht anders aus als sonst, aber diese ganze Energie, ihre mir vollkommen fremde, zweckfreie und nicht zielgerichtete Aktivität, scheint heute ein wenig gedämpft zu sein.
Während ich die Haustür aufschließe, fällt mir ein, dassChristina noch nie bei mir war. Und es kam mir die ganze Zeit nicht einmal seltsam vor, dass wir uns immer nur bei ihr getroffen haben. Ich bin ein wenig nervös, was sie zu meiner einigermaßen aufgeräumten, recht normalen Wohnung ohne Fahrräder im Flur sagen wird. Aber Christina scheint im Moment andere Dinge im Kopf zu haben und lässt sich schlaff auf mein Sofa fallen – und nach ein paar Minuten, als ich mit zwei Club-Mate-Flaschen aus der Küche komme, kann ich mir schon gar nicht mehr vorstellen, dass sie nicht auf meinem Sofa sitzt, so vertraut ist das Bild. Diese fast schon magische Gabe – das klingt jetzt sehr kitschig, ist aber wirklich so gemeint –, einen Ort, an dem sie vorher noch nie war, in kürzester Zeit zu ihrem Ort zu machen, von dem man sie sich gar nicht mehr wegdenken kann, habe ich schon häufiger beobachtet. Die No-Name-Bar zum Beispiel trägt für mich inzwischen, nachdem wir ein paarmal zusammen dort waren, ihren Namen: die Christina-Aguilera-Bar. Keine Ahnung, wie sie das anstellt, doch um zum Kitsch noch etwas Pathos hinzuzufügen: Es hat wohl mit ihrer Ausstrahlung zu tun, ihrer Präsenz. Betritt sie einen Raum, richtet sich sofort alle Aufmerksamkeit auf sie, dabei tut sie eigentlich nichts, jedenfalls nichts Auffälliges. Sie ist einfach da.
Christina nimmt einen großen Schluck Mate und macht keine Anstalten, von ihrer Entlassung zu erzählen.
»Was war denn los?«, frage ich schließlich.
»Die ganze Abteilung wurde geschlossen, weil mein Chef nicht mehr nur auf das Poster der Piraten-Partei geschossen hat, sondern mit seiner Gaspistole bewaffnet auch zu einer Parteisitzung gegangen ist.«
Ich wusste schon immer, dass die Musikindustrie krankist, aber dass sie wirklich so verrückt sind, hätte ich dann doch nicht gedacht.
»Aber darum geht’s eigentlich nicht.« Sie wirkt ein wenig ungeduldig. »Der andere Chef, der Oberchef, meint, wegen der Musikwirtschaftskrise, der Finanzkrise, der Immobilienkrise, der Urheberrechtskrise, kurz: weil die Welt unmittelbar vor dem endgültigen Zusammenbruch steht, muss er leider alle entlassen. Im Prinzip bleibt nur die Rechtsabteilung, die den ganzen Tag damit beschäftigt ist, sogenannte Raubkopierer auf irrwitzigen Schadenersatz zu verklagen. Der Rest des Hauses steht leer.«
Ich muss an das große Universal-Gebäude an der Spree denken, an das riesige Logo, das ständig seine Farbe wechselt. Und an die geleckten Anwälte, die da allein im Großraumbüro sitzen und schadenfroh Briefe mit gigantischen Schadenersatzforderungen an kleine Hip-Hop-Kinder verfassen, die sich illegal die neue Bushido-Single runtergeladen haben. Schließlich macht der auch immer so auf Gangster.
»Aber du hast doch einen Vertrag, den kann man ja nicht einfach kündigen!«
Christina macht ein komisches Geräusch. »Wer ist denn heute noch fest angestellt und hat Verträge?«
Ich zum Beispiel, hätte ich beinahe gesagt, lasse es dann allerdings lieber bleiben. Mein Job ist zwar scheiße, aber immerhin halbwegs sicher. Diese ganzen Zeitungsartikel über prekäre Arbeitsverhältnisse, digitale Bohème, Selbstausbeutung und dergleichen, habe ich zwar gelesen, aber immer gedacht, das habe nichts mit mir zu tun. Im »Arbeitsleben« (was für ein scheußliches Wort) scheint heutzutage (jetzt klinge ich schon wie dieser Show-Wissenschaftler)alles etwas schneller zu gehen: Mit einundzwanzig einen perfekten Job kriegen, um mit
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