Lehmann, Sebastian
einundzwanzigeinhalb wieder gefeuert zu werden. Ich hatte wenigstens ein paar Jahre »Arbeitsleben« Zeit, um zu resignieren. Nicht, weil alles so schnell, sondern im Gegenteil: weil alles unendlich langsam vorangeht und ich nach wie vor im Kleinanzeigenbüro meine Zeit absitze. Andererseits habe ich mich auch nicht wahnsinnig angestrengt, es war doch immer nur ein Brotjob.
Natürlich hat auch das mit unserem Altersunterschied zu tun; der Arbeitsmarkt war schon vor zehn Jahren beschissen, allerdings anders beschissen. Wie lange habe ich meinen Job beim Magazin jetzt schon? Sechs, sieben Jahre bestimmt, und plötzlich werde ich zum Chef befördert, zum Chef der Kleinanzeigenabteilung zwar nur, aber: besser als nichts. Ich habe immer gejammert, wie langweilig dieses bescheuerte Stadtmagazin ist und dass mein Chefredakteur jeden Tag in seinem Büro in ohrenbetäubender Lautstärke »Glory Days« hört, aber immerhin schießt er nicht mit einer Gaspistole um sich.
Christina zündet sich eine Zigarette an, und fast hätte ich gesagt, dass in meiner Wohnung nicht geraucht wird, aber zum Glück kann ich mich gerade noch beherrschen, ich meine, sonst hätte ich ja endgültig die Vaterrolle übernommen.
»Und jetzt?«, frage ich.
»Keine Ahnung.« Christina nimmt einen großen Schluck Mate. »Ich könnte wieder studieren. Aber mit zweiundzwanzig zurück an die Uni, ich weiß nicht. Vielleicht ist das auch zu spät.«
Ich blicke sie erschrocken an. Mit zweiundzwanzig habeich nach einem Jahr Philosophiestudium gerade meine erste Hausarbeit geschrieben. Angefangen zu schreiben.
»Du musst ja nicht schon heute wissen, was du in Zukunft machen willst. Überhaupt muss man nicht ständig irgendwas machen.«
»Ich weiß tatsächlich gerade nicht, was ich machen will.« Sie lacht. »Zum ersten Mal seit dem Abi.«
»Wir könnten wegfahren, ein paar Tage raus aus Berlin«, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt. »Etwas Abstand gewinnen und nachdenken.«
»Ich habe Berlin schon so lange nicht mehr verlassen«, sagt Christina leise. »Manchmal habe ich das Gefühl, die Welt außerhalb der Stadt existiert gar nicht mehr. Man liest ein Buch, das natürlich in Kreuzberg spielt, man schlägt die Zeitung auf und sieht Bilder von Politikern im Reichstag, alle reden und schreiben nur noch über Berlin. Vielleicht ist da draußen schon längst nichts mehr.«
Dann entdeckt Christina plötzlich die Fernbedienung, die vor ihr auf dem Wohnzimmertisch liegt.
»Süß, du hast wirklich noch einen Fernseher.« Sie streicht mir über den Kopf.
»Ich weiß, heutzutage schaut man nur noch auf illegalen Seiten im Internet intelligente Serien aus den USA über transsexuelle Politikergattinnen oder verhaltensauffällige CIA-Agenten mit muslimischen Wurzeln. Ich guck aber immer noch gern die NDR-Talkshow.«
Christina tätschelt mir noch einmal belustigt den Kopf. Wir sind anscheinend ganz gut darin, nicht ewig über die schlechte Welt und unsere Probleme zu jammern. Sie zappt ein wenig durch die Kanäle und bleibt bei einer Dokusoap namens Berlin – Tag & Nacht hängen. Ein kahlrasierter Muskelmannsitzt in einem Fitnessstudio, schlürft einen Eiweißdrink und unterhält sich mit einer auffällig gepiercten, ebenfalls sehr muskulösen Frau, die eigentlich genauso aussieht wie er, und erzählt irgendetwas von seinem Kampfhund namens Killerkalle.
»Wollen wir nicht lieber Homeland gucken?«, fragt Christina. »Ich kenn da eine Seite, die lädt echt schnell.«
Es ist zwar noch nicht Mittag, als ich am nächsten Tag die Redaktionsräume betrete, aber die zwei Praktikanten sitzen natürlich schon an ihrem Schreibtisch und warten auf Arbeitsaufträge; sie müssen sich Garys Tisch teilen, weil das Büro viel zu klein ist, um auch nur ein zusätzliches Möbelstück unterzubringen, was ihnen aber nichts auszumachen scheint. Auf meinem Schreibtisch steht eine dampfende Tasse mit frischem Kaffee.
Der Morgen heute war seltsam, anders als sonst. Natürlich weil wir zum ersten Mal zusammen bei mir in der Wohnung aufgewacht sind, aber vor allem, weil ich als Erster aufgestanden bin. Christina hat einfach weitergeschlafen, vielleicht schläft sie noch immer. Eigentlich ein schöner Gedanke: Christina, wie sie in diesem Moment friedlich schlafend in meinem Bett liegt.
»Der Boss war vorhin da«, reißt mich einer der Praktikanten aus meinen Tagträumen. Ich sollte mir wirklich angewöhnen, früher zu kommen, jetzt wo Gary nicht mehr da ist.
»Er hat
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