Lehmann, Sebastian
dem Rand abgeschnitten. Außerdem ähnelt die Redakteurin überhaupt nicht Mrs. Franzen. Da muss ich was durcheinandergebracht haben.
»Äh, also, der Tiergartenartikel«, stammle ich.
»Komm doch ein bisschen näher, mein Süßer.« Sie macht mit ihrem Zeigefinger die Komm-her-Bewegung.
Ich trete einen kleinen Schritt nach vorn, und hinter mir schlägt die Tür wie von Geisterhand zu.
»Tiergarten, das neue Szeneviertel. Aber stimmt das?« Die Redakteurin fixiert mich fragend.
»Äh …«, sage ich und muss husten. Diese Räucherstäbchen sind wirklich widerlich.
»Es gibt in letzter Zeit immer mehr Hinweise auf seltsame Vorgänge in diesem ziemlich langweiligen West-Berliner Bezirk.«
Weiß sie vielleicht sogar mehr als ich? Irgendwie kommt mir die Redakteurin wie eine Figur aus einem Film der Coen-Brüder vor: böse, aber sehr mächtig. Eigentlich sieht sie auch genauso aus wie Javier Bardem in No Country for Old Men . Spielt er da nicht einen Typen, der unschuldige Menschen mit einem Bolzenschussgerät ermordet?
»Wohnst du nicht sogar in Tiergarten? Muh, muh, piep, piep …« Sie beginnt laut zu lachen, hohl und dumpf klingt ihre Stimme, am Ende verschluckt sie sich und zwinkert mir böse zu. Vielleicht holt sie gleich ein Bolzenschussgerät hinter ihrem Rücken hervor.
»Äh …«, beginne ich noch einmal, weiß dann aber nicht weiter. Soll ich sie eigentlich auch duzen? Könnte das so eine Art antiautoritäre Geste ihrerseits sein, mich zu duzen, alle zu duzen? Oder nimmt sie mich einfach nicht ernst? Und wie soll ich sie dann nennen? Keine Ahnung, wie sie heißt – Javier?
Plötzlich geraten ihre Gewänder in Wallung, sie steht unglaublich behäbig auf und kommt auf mich zugewalzt. Sie ist wahnsinnig groß und breit. Als sie nur noch einen Schritt von mir entfernt ist, streckt sie ihren Arm aus, und ich denke, jetzt ist es vorbei, sie wird mich mit ihrem Bolzenschussgerät umnieten, aber sie zeigt zum Glück nur mit dem Zeigefinger in die Luft und ruft: »Geh raus und finde die Story! Schreibe mir einen Text, den Berlin noch nicht gesehen hat! Das ist deine Chance, mein Süßer. In zwei Wochen sehenwir uns wieder, bis dahin hast du deinen Auftrag erfüllt. Und nun lass mich allein. Ich muss meditieren.«
Ihre Augen leuchten rot auf, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Mir ist schon ganz schwindlig vom Qualm der Räucherstäbchen, meine Augen tränen, und ich stolpere, heftig nickend, rückwärts aus dem Büro.
Die Tür öffnet und schließt sich wieder, und eine Sekunde später stehe ich auf dem dunklen Gang. Zurück im Kleinanzeigenbüro, lasse ich mich auf meinen Sessel fallen und will gerade anfangen, über den Auftrag nachzudenken, als ich bemerke, wie mich die beiden Praktikanten aufdringlich angrinsen.
»Was?«
»Wir sind fertig«, sagen sie im Chor, und der eine schlägt freudig seine Hände in der Luft zusammen.
»Womit?« In meinem Kopf spukt immer noch die fürchterliche Erscheinung von gerade eben herum.
»Wir haben alle Kleinanzeigen für die nächste Ausgabe sortiert.«
Ich dachte, die beiden wären damit die ganze Woche beschäftigt. So lang hätte ich nämlich gebraucht.
»Was sollen wir jetzt machen?«, fragt der eine Artur und streicht sich seine Krawatte zurecht.
»Also, ihr könntet zum Beispiel …« Scheiße, mir fällt nichts mehr ein, was die beiden jetzt noch erledigen könnten, es gibt einfach nichts mehr zu tun hier. »Kaffee kochen«, sage ich schließlich. »Kocht bitte einen riesigen Topf Kaffee, ja? Und macht wieder so schöne Zeichnungen mit dem Milchschaum.«
Ohne ein weiteres Wort springen die Arturs zur Tür und sind verschwunden.
Endlich allein, lehne ich mich in meinem Chefsessel zurück und schließe die Augen. Noch einmal ziehen die schrecklichen Bilder aus der Lifestyle-Redaktion und von Javier an mir vorbei, aber zum Glück schlafe ich schnell ein.
12
Marky Mark feat. Prince Ital Joe
Kurt und ich sitzen in der No-Name-Bar und warten auf Christina und Dr. Alban. Ich habe Kurt tatsächlich breitschlagen können, mit uns in Neukölln was trinken zu gehen. Ich erinnere mich gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal mit ihm abends unterwegs war, aber er scheint sich halbwegs zu amüsieren, jedenfalls hat er seinen ersten Club-Mate-Wodka ziemlich schnell geleert und schlürft jetzt schon den zweiten.
»Und wie fühlt es sich an, wieder unter jungen Menschen, nachts und draußen?«, frage ich ihn.
»Wunderbar. Ich wusste gar nicht, was ich
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