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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Genau mein Beutelschema
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pikiert, dass ich es wage, bei der Arbeit auf Facebook rumzusurfen. Aber nach einem strengen Blick meinerseits beschäftigen sie sich wieder mit ihrer Arbeit. Also, meiner Arbeit. Sie sollen nämlich schleunigst alle Infos über Tiergarten zusammensuchen, die sie bekommen können. Ich wohne da zwar schon ewig, aber von der Geschichte des Bezirks und so was habe ich keine Ahnung. Schließlich sollte ich langsam mit meinem Artikel anfangen.
    Ich widme mich wieder dem nervigen sozialen Netzwerk. Jetzt sind wir also Freunde, Christina Aguilera und Marky Mark. Was sie wohl zu meiner Freundesanzahl sagt? Ich schaue mir ihre Seite an und traue meinen Augen kaum: Das Video der Stereotypen haben schon zweitausendeinhundertzweiundfünfzig Leute geliket, achthunderteins haben es auf ihrer Seite geteilt, außerdem gibt es fünfhundertsiebzehn Kommentare dazu. Ich lese die letzten drei:

    »Krass. Geile Scheiße. Das ist dein Freund? Wo bekomme ich die Platte?«, schreibt Coco Jambo 93.
    »Not bad. When are they playing in New York?«, hat James Murphy kommentiert.
    »I wanna fuck the silly guy on keyboards«, meint Sinwith-Sebastian.
    Ich gehe auf YouTube. Das Video ist seit gestern häufiger angeklickt worden als in den letzten fünf Jahren zusammen, genauso wie die anderen zwei Videos von uns, die es dort noch zu sehen gibt. In den Kommentaren wird ständig gefragt, ob man uns live sehen kann und wo es unsere Platten zu kaufen gibt. Das kommt alles so knapp zehn Jahre zu spät. Aber damals gab es ja noch keinen Facebook-Fame.
    Ich gucke mir alle unsere Videos noch einmal an – den Praktis habe ich vorher erklärt, das sei »Recherche« für einen großen Artikel über die Elektroszene in Berlin um die Jahrtausendwende. Sie schauen mich beeindruckt an, mittlerweile scheinen sie mich etwas mehr zu respektieren.
    Eigentlich gar nicht so schlecht, was wir damals fabriziert haben. Prince Ital Joe kann wirklich nicht schlecht singen. Und Elektromusik hat sich seitdem auch nicht so wahnsinnig weiterentwickelt, es bummtbummt immer noch kräftig. Ob Prince Joe mit seinen Schülern in der norddeutschen Tiefebene unsere Songs im Musikunterricht intoniert?
    Der Kontakt zwischen mir und dem Prince ist schon ziemlich lange eingeschlafen. Ich beschließe, ihm eine Mail zu schreiben, damit er unsere fifteen minutes of fame nicht verpasst, ich glaube kaum, dass der Herr Lehrer bei Facebook ist. Als ich die Mail abgeschickt habe, sehe ich, dassmir Gary geschrieben hat. Vielleicht ist er ja wieder da. Aber als ich die Mail öffne, bemerke ich, dass es nur eine Rundmail an alle seine Freunde ist. Also, außer an mich noch an zwei andere aus der Redaktion und an seine Mutter.

    »Nachdem ich in Berlin unter die Räder gekommen bin, habe ich gelernt, kein Narziss mehr zu sein. Hier bei den Wölfen in der ostdeutschen Steppe habe ich Gold gefunden. Schön ist die Jugend, aber tagelanges Glasperlenspielen hat mir gezeigt: Alles wird sich zum Guten wenden.
    Let it flow. Shanti.«

    Na toll, jetzt ist er endgültig durchgeknallt. Ich nehme einen Schluck von meinem vorzüglichen Kaffee (diesmal haben die Praktis einen kleinen Stoffbeutel in den Milchschaum gemalt). Dieses Hippietum lässt sich einfach nicht ausrotten. Ich meine, wie viele Beweise brauchen die »Alles wird gut«-Sager denn noch, um zu merken, dass eben gerade nicht alles gut wird? Neoliberalismus, Krieg im Nahen Osten, Kate Perry, es wird alles immer schlimmer! Aber dann ans Lagerfeuer fläzen, »Stairway to Heaven« auf der Klampfe nachspielen, einen dicken Joint drehen und warten, dass die Welt gut wird. Aber der Kapitalismus geht nicht einfach so weg – leider.
    »Scheiße!«, rufe ich zu laut und haue mit der Faust auf meinen Schreibtisch. Die Praktikanten zucken erschrocken zusammen.
    »Ich meine nicht euch, arbeitet einfach weiter.« Die zwei Arturs widmen sich wieder ihrem Computer. Erschöpft lehne ich mich in meinem Sessel zurück. Was ist nur in michgefahren? Erst diese Gary-Sache und dann auch noch Christina, die gefeuert wird – das macht mich echt fertig.
    Plötzlich schiebt mir einer der Praktikanten einen dicken Stoß Papier über den Tisch.
    »Alle Infos zu Tiergarten, Chef«, sagt der andere.
    »Das alles?« Die beiden lächeln mich stolz an.
    »Wohnen Sie eigentlich wirklich da?«, fragt mich der eine. »Wir kennen niemanden, der …«
    »Jaja. Egal, ich muss dann mal los, recherchieren.«
    Ich packe meine Sachen zusammen, um mich nach Hause aufzumachen. Schließlich

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