Lehmann, Sebastian
nicht mehr sicher vor seiner Vergangenheit.
»Das bist du?«, kreischt Christina, als ich Keyboard spielendin meiner Küche auftauche. Das Video wurde nämlich in der Küche meiner damaligen WG gedreht. Wo auch sonst? Ich habe das Gefühl, die Zeit zwischen zwanzig und fünfundzwanzig ausschließlich in WG-Küchen verbracht und dort Unmengen Bier getrunken und Spaghetti mit Tomatensoße gegessen zu haben.
»Irgendwie kommt mir das Video bekannt vor, als ob ich das schon mal gesehen hätte.« Christina starrt ungläubig auf das kleine Handydisplay.
»Da war ich so alt wie du jetzt.« Ziemlich frustrierend eigentlich, wenn ich länger darüber nachdenke. Also denke ich nicht länger darüber nach.
»Aber was ist das da auf deinem Kopf?«
»Haha«, sage ich. »So anders sieht deine Frisur ja wohl auch nicht aus.«
»Ein sehr interessantes Video«, sagt Dr. Alban begeistert, der sich jetzt auch über das Handy gebeugt hat. »Ihr zitiert hier doch die verwirrenden Kamerafahrten aus Jean-Luc Godards berühmter Wohnungsszene in Die Verachtung , oder?«
»Also, ähm, ich kann mich nicht mehr so genau erinnern …«, sage ich.
Kurt versucht, das alles, so gut es geht, zu ignorieren. Er hielt schon damals nicht besonders viel von meiner »Kunst«. Er hört nämlich ausschließlich Gitarrenmusik, am liebsten, wenn sie mindestens zwanzig Jahre alt ist.
»Mein Freund ist berühmt«, sagt Christina, als das Video zu Ende ist.
Sie hat es schon wieder gesagt: mein Freund.
»Na ja«, sage ich verlegen.
»Das poste ich bei Facebook.« Und bevor ich eingreifenkann – es wäre ohnehin sinnlos –, hat sie das Video auf ihrer Seite hochgeladen und darübergeschrieben: »Mein Freund ist berühmt.« Dann kann sie ja auch gleich ihren Beziehungsstatus ändern, denke ich, sehe dann aber, dass sie gar keinen Status bei sich auf der Seite angegeben hat. Na klar, heutzutage hat man weder eine Beziehung noch einen Status.
»Aber ich will nicht, dass jeder, der auf deiner Facebook-Seite landet, das Video sieht.«
»Keine Angst, das sehen nur meine Freunde«, beruhigt mich Christina.
»Wie viele Freunde hast du denn?«
»Ach, zweitausend oder so.« Ich erstarre. Selbst Kurt blickt entsetzt von seinem Mate-Wodka auf, und Dr. Alban muss ziemlich breit grinsen. »Also, genau … zweitausenddreihundertachtundsiebzig, nee warte, da ist gerade ’ne Anfrage …« Sie klickt auf ihrem Handy rum. »Jetzt sind es zweitausenddreihundertneunundsiebzig.«
»Das war’s dann wohl mit deiner Geheimniskrämerei«, sagt Kurt. »Übrigens, ich muss dann langsam los …«, fügt er immer noch paralysiert von diesen ungeheuren Zahlen hinzu.
»Du hast zweitausenddreihundertneunundsiebzig Freunde?«, frage ich benommen. Ich habe gerade mal sieben Facebook-Freunde – immerhin zwei mehr als im echten Leben. Aber das behalte ich lieber für mich.
»Sind wir überhaupt schon befreundet?«, fragt Christina.
»Brauchen wir doch nicht, wir sehen uns doch eh jeden Tag.«
Christina und Dr. Alban müssen laut und lange lachen.
»Zweitausenddreihundertneunundsiebzig«, murmelt Kurt leise. »Ich geh dann mal.« Aber er steht nicht auf.
»Ich bin halt schon ewig bei Facebook«, sagt Christina. »Da sammelt sich einiges an.«
Ich reiße ihr das iPhone aus den Händen. »Du bist seit dem fünften Januar zweitausendelf bei Facebook«, lese ich von ihrer Timeline ab.
»Siehst du, schon ewig.«
»Tschüs«, ruft Kurt in die Runde. Endlich hat er es geschafft, sich aus seinem Sessel zu hieven. Wir verabschieden uns, und ich blicke Kurt nach, wie er erschöpft aus der No-Name-Bar wankt. Bei Christina und Dr. Alban komm ja nicht mal ich mehr mit, wie soll es da erst Kurt gehen?
»Ich hab dir eine Freundschaftsanfrage geschickt«, sagt Christina.
»Ich auch.« Dr. Alban hat ebenfalls sein Handy hervorgeholt. Er hält kurz inne und rückt erstaunt seine Brille zurecht. »Hast du etwa ›Philosoph‹ als Beruf angegeben?«
»Soll ich Kleinanzeigenbetreuer reinschreiben?«
»Dann kann ich auch endlich einen Beziehungsstatus angeben«, sagt Christina, die so einen Beruf anscheinend gar nicht komisch findet. »Christina Aguilera in einer Beziehung mit Marky Mark.«
»Ein Traum geht in Erfüllung«, sage ich matt.
»Haha«, machen Christina und Dr. Alban gleichzeitig. Dabei sollte das gar kein Witz sein.
13
Fifteen MINUTES of fame
Am nächsten Tag im Büro beantworte ich Christinas Freundschaftsanfrage auf Facebook. Die zwei Praktikanten sind offensichtlich
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