Lehmann, Sebastian
uneingeschränkt? Wie würden denn die Top Five deiner liebsten Tätigkeiten aussehen?«
»Wir sind hier nicht in High Fidelity !« Er blinzelt mich böse an.
»Na ja, es gibt schon gewisse Ähnlichkeiten.«
»Was wäre das denn bei dir, Mark?«, schaltet sich Christina ein.
»Genau, du regst dich doch mindestens genauso oft über alles auf!«, sagt Kurt.
Christina muss lachen. »Ja, das stimmt.«
Das hätte ich nicht gedacht, dass die beiden sich gleich am ersten Abend gegen mich verbünden.
»Also zum Beispiel Musik hören. Und mit euch in Bars abhängen. Ins Kino gehen und Filme von den Coen-Brüdern ansehen. Denken. Ich denke wirklich gern nach, vor allem über mich. Und schlafen natürlich.«
»Schlafen zählt ja wohl nicht«, wirft Kurt sofort ein.
»Und ist auch nicht gerade mit in-Bars-Rumhängen vergleichbar«, fällt mir jetzt auch noch Dr. Alban in den Rücken.
»Das ist doch Quatsch, schlafen wäre sogar meine Nummer eins.«
»Was ist mit deinem Beruf?«, fragt Christina.
Darauf wäre ich gar nicht gekommen. Überhaupt dieser Ausdruck: Beruf. So was sagt man doch nicht mehr, das klingt nach fünfziger Jahren, und Wirtschaftswunder. Aber »Job« wäre auch seltsam, das meint ja eher eine Aufgabe und passt schon gar nicht. »Arbeit« ist genauso schwierig, mit diesem Begriff assoziiere ich vor allem Anstrengung, etwas, das überhaupt nicht auf meine Tätigkeit im Kleinanzeigenbüro zutrifft. Sicher ist: Ich arbeite, um Geld zu verdienen. Aber wie hat Christina irgendwann einmal gesagt: Das ist doch keine Arbeit, das macht mir Spaß. Eigentlich hätte eher ich verdient, meinen Job/Beruf zu verlieren, schließlich kann ich ihn noch nicht mal leiden.
»Ach, übrigens, das habe ich noch gar nicht erzählt, ich habe heute meinen ersten richtigen Auftrag für einen Artikel bekommen.« Ich erzähle von meiner Unterredung mit Javier, einige Details (ich bin verschüchtert und bekomme kein Wort heraus, das Bolzenschussgerät) verschweige ich allerdings.
»Doktor, du hast doch auch schon was in Tiergarten erlebt«, ruft Christina. »Da kann dich Mark ja mal interviewen.«
»Blöderweise weiß ich nichts mehr davon.« Dr. Alban wirkt nicht so, als würde er gern an seinen mysteriösen, wahrscheinlich alkohol- und drogenbedingten Absturz erinnert werden.
»Vielleicht wacht eines Tages auch ihr betrunken an der Kurfürstenstraße auf«, sagt er düster.
»Bei Marky wär das ja nichts Besonderes.« Christina grinst mich an.
»Hey, was ist denn das für ein Lied?«, fragt Dr. Albanplötzlich. Es gibt wenige Menschen, die auf die Hintergrundmusik in Bars achten, mal abgesehen davon, wenn das Gedudel zu nervig wird, was in einer Neuköllner Kneipe allerdings nicht zu erwarten ist. Hier weiß man, was gerade noch okay trashig und was schon over the top ist. Neunziger-Jahre-Mucke geht ja zum Beispiel wieder. Mit elektronischer Musik kann man genauso wenig falsch machen – allerdings muss hier darauf geachtet werden, dass es nur der allerneuste Nerd-Kram ist. Irgendwelche neueren Indie-Bands sind ebenfalls zu vermeiden, das ist inzwischen zu sehr Mainstream, Independent-Mainstream sozusagen. Mittelalte Elektronik geht schon wieder, bei Indie dagegen nur der sehr alte Sound, frühe achtziger Jahre oder so – es ist kompliziert. Dr. Alban ist natürlich einer, der auf die Bar-Hintergrundmusik achtet, und ich eigentlich auch. Aber das Lied gerade wäre mir gar nicht aufgefallen, vielleicht weil es mir so vertraut ist.
»Das seid doch ihr«, sagt Kurt, obwohl ich ihm sofort unter dem Tisch gegen das Schienbein trete, als mir klar wird, was da gerade gespielt wird.
»Wer?«, ruft Christina.
»Ich habe es geahnt«, sagt Dr. Alban.
»Du hast es natürlich nicht erzählt.« Kurt schüttelt genervt den Kopf.
Hat er das jetzt erwähnt, um sich an mir zu rächen? Um zu zeigen: Auch dein Leben ist nicht gerade widerspruchslos. Wahrscheinlich wundert er sich nur, das Lied in so einer hippen Bar zu hören. Ich wundere mich ja auch.
»Du bist einer von den Stereotypen?« Christina ist aufgesprungen und kriegt sich gar nicht mehr ein.
»So sieht’s aus«, sagt Kurt.
Ich nicke.
»Ey, Alter, voll krass«, sagt Dr. Alban.
»Jetzt redest du auch schon so komisch«, sage ich.
»Wie wer?«
»Warum hast du das vor uns verheimlicht?« Christina setzt sich wieder hin und wirkt ein wenig eingeschnappt, weil ich ihr nichts von meiner wahnsinnig erfolgreichen Musikkarriere mit den Stereotypen erzählt habe. Vielleicht,
Weitere Kostenlose Bücher