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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Genau mein Beutelschema
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soll ich einen Artikel über Tiergarten schreiben, da hat es ja wohl keinen Sinn, hier in Mitte rumzuhocken, wenn ich auch vor Ort sein kann.
    »Aber, Chef«, rufen die Praktikanten im Chor, als ich gerade das Büro verlassen will. »Was machen wir denn jetzt? Können wir vielleicht mitkommen?«
    »Nein, auf gar keinen Fall, das ist eine vertrauliche Sache, da darf es keine Zeugen geben.« Was für ein Schwachsinn, aber die Praktikanten glauben ohnehin alles. Glaube ich jedenfalls.
    »Das Büro zum Beispiel … ist so unordentlich. Ihr könntet mal den Schrank da aufräumen.« Ich deute auf den einzigen Schrank im Büro, den ich seit mindestens fünf Jahren nicht mehr geöffnet habe. Keine Ahnung, was da überhaupt drin ist, aber die Praktis stürzen sich schon auf ihn. Ich kann unbemerkt entkommen und dabei den Stapel Papier über Tiergarten im Papierkorb entsorgen.

    In der U-Bahn nach Hause schaut mich eine Frau, etwa in meinem Alter, die ganze Zeit seltsam an und zwinkert mir dann zu.
    »Entschuldigung, ich hätte da mal eine Frage«, sagt sie, »sind Sie vielleicht einer der Stereotypen?« Sie lächelt mich freundlich an.
    »Ohh, ähm, genau genommen …«, stottere ich, es geht also schon los, ich bin voll drin in meinen fifteen minutes. »Ja, bin ich.«
    »Ich bin ein großer Fan Ihrer Musik. Schon seit den Anfangstagen. Gerade heute erst habe ich ein Video von Ihnen auf Facebook gesehen.«
    In diesem Moment sehe ich die drei kleinen Kinder um sie herum, die offensichtlich ihre eigenen sind, denn sie sind alle irgendwie an ihr befestigt (Hand, Jackenzipfel, Kinderwagen). Die zwei größeren tragen Ray-Ban-Sonnenbrillen. Vor meinem inneren Auge blitzen grässliche Bilder von Oldie-Fernsehsendungen auf: Paul Kalkbrenner in einem lila Glitzerjackett rennt auf die Bühne, um das stark gealterte Loveparade-Publikum – jetzt mit natürlichen Glatzen – zu begrüßen. »Und nun ein ganz besonderes Highlight unseres allseits beliebten Techno-Stadls«, ruft Paule Kalki, wie ihn seine Fans nennen, seit bei ihm Alzheimer im Frühstadium diagnostiziert wurde: »Die Reunion der famosen Stereotypen aus Berlin. Rockt das Haus.« Alle jubeln, und Prince Ital Joe und ich werden in Rollstühlen auf die Bühne geschoben.
    Zum Glück fahren wir gerade in den Bahnhof Kurfürstenstraße ein, und ich steige aus. Ich höre gerade noch, wie die Frau zu einem ihrer Kinder sagt: »Schau mal, Lisa Marie Johanna, der da hat mal tolle Musik gemacht, und die Mama hat ganz dolle dazu getanzt und sich hin und wieder auch was eingeworfen. Das waren noch Zeiten.«
    Ich laufe ein wenig in meinem Kiez rum, vielleicht findeich ja irgendetwas Interessantes für meinen Artikel, aber alles sieht aus wie immer. Röhrenjeansträger sind weit und breit nicht zu sehen – mal abgesehen von dem älteren Typen vor Puschel’s Pub mit der Vokuhila und der Blousonjacke, aber die Jeans sind wohl noch original aus den Achtzigern. Ebenso wenig gibt es irgendwelche hübschen Cafés oder Bars mit Club-Mate-Wodka im Angebot. Und in den Spätis wird noch echtes Bier verkauft und kein Beck’s Green Lemon – und schon gar keine Stoffbeutel. Von wegen neuer Trendbezirk, Javier ist offensichtlich vollkommen durchgeknallt. Aber worüber soll ich dann meinen Artikel schreiben? Das wird wohl doch nichts mit der großen Journalistenkarriere, dafür werde ich jetzt mit meiner Musik bekannt. Hätte mir das jemand vor einer Woche erzählt, hätte ich ihn für wahnsinnig gehalten. Eigentlich würde ich das noch immer.
    Ich mache mich auf den Weg nach Hause, und plötzlich steht Dr. Alban vor mir. Er zwinkert mir hinter seinen dicken Brillengläsern zu.
    »Marky, wir scheinen füreinander geschaffen zu sein, immer treffen wir uns zufällig. Ein Wink des Schicksals.«
    Er lächelt mich gespielt verliebt an. Wo ist denn das Post von seiner Postironie geblieben?
    »Bist du wieder hier aufgewacht und weißt nicht, wie du hergekommen bist, oder wolltest du mich besuchen?«
    »Haha«, sagt Dr. Alban und schiebt seine Brille zurecht. »Nein, hier muss irgendwo ein sogenannter Art Space sein, den ich mir mal anschauen wollte.«
    »Ja, super«, sage ich, »das klingt doch nach Trendbezirk: Art Space.«
    Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, was der Doktorvon mir hält. Ich meine, immerhin bin ich so was wie der »Freund« seiner Mitbewohnerin.
    »Besser als Space Art«, mache ich einen Witz. Dr. Alban reagiert wie immer: gar nicht.
    Ich beschließe, ihn zu diesem komischen Art

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