Lehrerkind
seine Umrisse in das blasskalte Licht der Schulbeleuchtung. Die Augen aller Mitschüler klebten umgehend an dem steif dastehenden Schatten, der sich schlurfend und unsicher durch den Raum schob und dann direkt hinter mir Platz nahm. Nur am bösartigen Funkeln seines Blicks konnte ich in der veränderten Gestalt noch Michael Robenzek erkennen. Aus meiner Nemesis war ein gebrochener Hänfling geworden.
Wie sich ein paar Tage später herausstellte, hatte ich Michael mit meinem beherzten Tritt eine schwere Hodenquetschung verpasst, nur unter Aufwendung modernster medizinischer Technik war die Rettung des Eis überhaupt möglich gewesen. Die ersten paar Tage zuckte ich noch angstvoll bei jedem Geräusch zusammen, voller Angst, Robenzek würde mich jetzt mit seinem Füller erdolchen oder wieder anfangen, mir vor die Toilettentür zu strullern. Doch aus der Angst wurde mit der Zeit die wohlige Gewissheit, dass ich endlich meine Ruhe vor Michael Robenzek hatte, auch wenn ich bis heute, nur für den Fall, immer mit halb offenen Augen schlafe.
»Der Doof ist dem Genitiv sein Tod«
Timo Krause grinste mich verloren durch das dicke Glas seiner Brille an, hinter ihm schnitt ein Siebzigerjahre-Tapetenalbtraum den Raum in käsebrotgroße Teile, alles war braun und ocker. Die Schränke aus kackfarbenem Eichenfurnier wurden durch eine Gruppe auf Holz geklebter Waldtiere ergänzt, die unter den Fußballwimpeln des FC Schalke eine Szene aus Bambi nachspielten. Auf der Sofalehne war vor Jahren einmal ein Harlekin mit Keramikgesicht drapiert worden, er sah verloren aus. Wenigstens die Schalkewimpel waren blau, vielleicht auch eher gelb, Timos Eltern, Jutta und Arnold, rauchten nämlich mehr als Helmut Schmidt. Alles war mit einer blass-gelben Schicht aus Nikotin überzogen, die Wohnung war in jahrzehntelanger Arbeit erfolgreich eingeräuchert worden, wodurch der grenzwertige Gelsenkirchener Barock unter einer Schicht Lungenteer nun für immer konserviert lag. Selbst Timo, der einzige Junge meiner Grundschulklasse, der lebensmüde genug war, mit mir befreundet zu sein, wirkte wie in Wachs getaucht. Die wenigen Jahre seines Lebens, die er dieser Abgashalle mit Kleintierfriedhof bereits ausgesetzt gewesen war, hatten ihm nicht gutgetan. Er war zu klein, zu dick, sah schlecht und hörte gerade mal jedes zweite Wort, das man zu ihm sprach. Doch Timo war clever, zu clever für Arnold und Jutta und ihr Prekariatsbewusstsein, das ständig irgendwo zwischen Vollrausch, Fußball und Frittenbude oszillierte.
In der Schule schrieb er fast nur gute Noten, was seinen Eltern jedoch kaum auffiel, da er als Schlüsselkind relativ früh zur Selbstversorgung übergegangen war. Mikrowellennudeln, Mikrowellenauflauf, Mikrowellensamstagabendunterhaltung, alles in Timos Leben war irgendwie schäbig und zweitklassig. Wie er es geschafft hatte, in einer so schlaffen Hülle einen so wachen Geist zu errichten, war ein Geheimnis, das bis heute kein konservativer Bildungspolitiker auf Anne Wills Betroffenheitscouch erklären könnte. Mit seiner dicken Brille und dem wächsernen Gesicht sah Timo immer ein wenig wie ein jugendlicher Hans-Jürgen Wischnewski aus.
Jutta war Justizvollzugsbeamtin a.D., was bei ihr für »akut desolat« stand, den Job des täglichen Türabschließens übte sie schon länger nicht mehr aus. Als sie sich in Arnold verliebte, war es vorbei, das kam im Knast nicht gut an. Mit einem Mann wie Arnold kommt man eigentlich nirgendwo gut an. Arnold war Langzeitgefängnisgast gewesen, sah wie ein ukrainischer Hühnerwürger aus und hatte das Gemüt eines Zementsacks. Das Leben war nicht gnädig mit ihm gewesen, und die tätowierte Träne unter seinem Auge erhöhte die Chancen für eine Anstellung bei der Sparkasse auch nur unwesentlich. Timos leiblicher Vater Jürgen war schon ewig verschollen, er hatte, als er von der Affäre seiner Frau erfuhr, rechtzeitig die Reißleine gezogen und sich aus dem heimischen Muff in die Vergessenheit katapultiert. Jetzt war Arnold da, sein plumper Körper weilte den Großteil des Tages am Couchtisch und sah Al Bundy dabei zu, wir er es ihm gleichtat. Sein Leben war ein hirnfreies Perpetuum mobile.
Timo war in diesem traurigen Lebensentwurf nur Zaungast. Arnold schlug oder kommandierte ihn nicht herum, aber er beachtete ihn auch nicht – in seinem Mikrokosmos aus Leberwurstbrot und Wimpeln war wenig Platz für ein Kind.
Nebenbei sprachen Jutta und Arnold ein Deutsch, bei dem Bastian Sick spontan eine
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